Die Witwe des Millionärs. Laura Lippman
gehe ich aus«, sagte Tess schließlich, »also komme ich erst spät wieder. Ich sage Kitty, dass sie nach dir schauen soll.«
Esskay schaute kurz auf, dann starrte sie wieder die Decke an. Na toll, dachte Tess. Ich rede mit einer Hündin, und die hört noch nicht mal zu. Dann rannte sie die Treppen hinunter, sie war zu spät. Das war einer der Nachteile, wenn das Büro nur zehn Minuten entfernt ist. Man konnte die Verspätung unterwegs nicht mehr aufholen.
3
Tyner Grays Anwaltsbüro befand sich in einem alten Stadthaus am Mount Vernon Square, in einer netten Gegend am Fuße von George Washington, der alles von seinem Sockel aus beobachtete. »Aber er ist älter als der in D.C.«, erzählte irgendein Einheimischer jedes Mal. Tess war das Denkmal egal, aber ihr gefiel der hübsche Park vor dem Bürofenster, sie mochte die klassische Musik, die vom Peabody Conservatory herüberhallte, und die ausgezeichneten Restaurants in der Gegend. Im letzten Herbst hatte das Schicksal sie hierher verschlagen, eigentlich hatte es nur ein Job auf Zeit sein sollen. Aber Tess war geblieben, obwohl Tyner sie jeden Tag daran erinnerte, dass es ihr Ziel sein sollte, eine Lizenz als Privatdetektivin zu erhalten und ihr eigenes Büro zu eröffnen.
Als sie um Viertel nach neun durch die schwere Eingangstür trat, konnte sie das Quietschen des altmodischen Fahrstuhls hören, den nur Tyner benutzte. Tess hetzte die breite Marmortreppe in den ersten Stock hinauf, dann nahm sie die schmalere Treppe in den zweiten Stock; sie war sicher, den Fahrstuhl überholen zu können. Sie hatten einmal mit Tyners Stoppuhr nachgemessen, derselben, mit der er auch Nachwuchsruderer quälte. Der Fahrstuhl brauchte genau eine Minute und 32 Sekunden, um in den zweiten Stock zu gelangen. Als Tyner kam, saß sie schon an ihrem Schreibtisch im Empfangsraum, den sie sich mit der Rezeptionistin Alison teilte, und machte Notizen über ein Gespräch, das sie letzte Woche mit einer Frau geführt hatte, die hoffte, ihren Nachbarn wegen falscher Grundstücksgrenzziehung verklagen zu können.
»Damit legst du mich nicht rein«, sagte Tyner und fuhr in seinem Rollstuhl an ihr vorbei.
»Wirklich, Mr. Gray, sie war die ganze Zeit schon hier«, sagte Alison ungefragt. Sie war eine echte Schönheit, überzüchtet wie ein Golden Retriever, aber Alison hatte ein gutes Herz. Und konnte überhaupt nicht lügen.
»Ich hab dich auf der Treppe gehört«, rief er über die Schulter Tess zu. »Du hast schwere Schritte. Ich vergesse es immer wieder – hast du Platt- oder Spreizfüße?«
»Platt«, sagte sie und folgte ihm in sein Büro, einen spartanisch eingerichteten Raum. Seit fast vierzig Jahren saß Tyner im Rollstuhl, und er hatte nicht darauf gewartet, dass jemand ihm die Welt zu Füßen legte. Obwohl sich sein Büro in einem Stadthaus aus dem 19. Jahrhundert befand, das geradezu nach Antiquitäten schrie, hatte er sich für schlanke, moderne Möbel entschieden, die weniger Platz einnahmen. Sein Tisch war groß und niedrig, eine Spezialanfertigung, sodass er direkt heranrollen konnte. Die ihm gegenüber stehenden Stühle waren groß und schmal, teure Walnussholzstücke mit schmalen Lederstreifen als Sitzen. Sie waren ungeheuer unbequem, und nicht ganz zufällig erinnerten sie an die beweglichen Sitze in Ruderbooten. Rudern war Tyners wahre Leidenschaft, selbst wenn seine Rudererjahre nur einen Bruchteil seines Lebens ausgemacht hatten.
»Mein Onkel wurde letzte Nacht überfallen«, erzählte Tess und kauerte sich auf einen der Stühle. »Irgendjemand hat ihn böse zusammengeschlagen.«
»O Gott. Welcher? Welche Seite?« Unvermeidbare Fragen und schwierige dazu, denn Tess hatte neun weitere Onkel – die fünf jüngeren Brüder ihres Vaters, die vier älteren ihrer Mutter. Spike war in Wahrheit ihr Cousin, und um die Sache noch komplizierter zu machen, hatte man sich nie darauf einigen können, zu welcher Seite der Familie er gehörte. Sein Nachname war Orrick. Früher bestimmt mal O’Rourke, hatte Tess’ Mutter stets gesagt. Das könnte einer dieser osteuropäischen Judennamen sein, hatte ihr Vater stets gekontert, den die Immigrationsbeamten versaut haben.
»Der, dem das Point gehört, die Bar an der Franklintown Road. Es war ein Raubüberfall, und sie waren sauer, weil er kein Geld hatte.«
»In dieser Stadt kann man wirklich nicht mehr leben.«
»Das sagst du jeden zweiten Tag. Du suchst nur nach einem Grund, das Haus in Ruxton zu kaufen.« Dieser grüne behütete Vorort keine fünf Meilen außerhalb der Stadtgrenze war eine Art Codewort zwischen ihnen: Er symbolisierte die endgültige Aufgabe.
Tyner lächelte reuig. »Die Stadt macht es Steuerzahlern nicht leicht, hierzubleiben, Tess. Vor allem nicht nach diesem Winter. Meine Straße wurde nicht ein einziges Mal geräumt oder gestreut. Jedes Mal wenn es geschneit hat, war ich gestrandet.«
»Das musst du mir nicht erzählen. Vergiss nicht, ich bin fünfmal zu dir da rausgefahren, ich bin mit Skiern deine Straße entlanggeschliddert. Und du hast immer so getan, als wäre es ganz schrecklich, dass ich Gemüse vorbeibringe.«
»Ich wollte Brandy, kein Essen. Du wirst nie als Bernhardiner durchgehen, Tess.«
Bernhardiner. Tess dachte jetzt nicht mehr an die Vergangenheit, sondern an die Gegenwart. Hund. Sie sollte eine Windhund-Rettungsgruppe anrufen, wie Steve es ihr geraten hatte.
Sie überließ Tyner seiner wie üblich mäßigen Laune, ging zurück an ihren Schreibtisch und blätterte im Telefonbuch, bis sie tatsächlich einen Eintrag für Windhunde in Maryland fand.
»Windhunde Maryland.« Das atemlose Wesen am anderen Ende der Leitung war eine Frau mit einer netten, kehligen Stimme. Im Hintergrund bellten wie wild Hunde. Tess sah sie sofort in Blue Jeans vor sich, ganz voller Hundehaare. Igitt.
»Hi, ich habe anscheinend von meinem Onkel einen Windhund geerbt und würde mich gern schlau machen. Welches Futter brauche ich? Wie sieht’s aus mit Auslauf, besonderem Verhalten? Sowas.«
»Wie lang hat ihr Onkel den Hund gehabt? Ich meine, hat er ihn erst vor Kurzem adoptiert, oder ist er schon eine Weile bei ihm? Wie geht es ihm?«
Tess war verwirrt, sie dachte, »er« müsste ihr Onkel sein. Dann wurde ihr klar, dass die Frau den Hund meinte. »Äh, erst seit Kurzem, schätze ich. Sie wusste nicht, wie man Treppen geht.«
»Ist er von hier?«
»Der Hund? Weiß nicht.«
»Ihr Onkel. Wie heißt er?«
»Spike Orrick.«
»Bei dem Namen klingelt nichts, und wir kümmern uns eigentlich um die meisten Adoptionen in und um Baltimore.« Die Stimme der Frau klang plötzlich viel weniger freundlich. »Sind Sie sicher, dass er den Hund korrekt adoptiert hat? War er mit ihm beim Tierarzt? Man muss die Hunde nämlich sterilisieren lassen, wissen Sie. Das ist Teil der Vereinbarung. Ist der Hund jetzt bei Ihnen? Wir haben ein Identifikationssystem, und wenn Sie bloß …« Tess legte auf. Wem wollte sie etwas vormachen? Spike hatte noch nie etwas korrekt gemacht. Wenn Esskay nur reden könnte. Wenn Spike nur reden könnte.
Aber dann rief sie im Saint Agnes an und erfuhr: Spike lag jetzt im Koma, niemand wusste, wie es weitergehen würde.
»Was ist so selten wie ein Frühjahrstag? Was ist so selten wie ein Märztag in Baltimore, an dem tatsächlich die Sonne scheint?«, murmelte Tess vor sich hin, als sie am Abend die Treppe zum Brass Elephant hochstieg. Sie sorgte sich um Spike, freute sich aber auch auf die Zeit in ihrer Lieblingsbar mit einem ihrer Lieblingstrinkbrüder.
Die Brass Elephant Bar war ein gut gehütetes Geheimnis, und die Stammkunden waren froh darum. Sie war ein billiges Versteck über einem teuren Restaurant. Während Tess’ Arbeitslosigkeit war sie für sie unverzichtbar geworden, ein Fluchtort, an dem sie sich zivilisiert und umsorgt fühlen konnte und an dem sie für fünfzehn Dollar gut essen konnte. Das Licht war gedämpft, genau wie die Musik; Chet Baker, Johnny Hartman und Antonio Carlos Jobim murmelten ihre Liebeslieder so leise, dass man nur manchmal einen geflüsterten Reim wie love/above, art/heart oder sky/high hören konnte. Vor ein paar Jahren hatte es einen schrecklichen Augenblick gegeben, als eine neue Barkeeperin eine Jazzversion des Schmusehits aus dem neuesten Disney-Trickfilm gespielt hatte, aber das hatte man ihr schnell wieder abgewöhnt.