Die Bernert-Paula. Eine Geschichte zum Vorlesen. Max Herrmann-Neisse
und an führender Stelle mitzutun. Dann ging es anfangs einsilbig und ungemütlich zu, und nur, wenn sie fragte, wurde geantwortet. Aber allmählich kam man mit solchem Frage- und Antwort-Spiel durch das gemeinsame Nadeln in einen gewissen Kontakt, die Entgegnungen flossen reichlicher, unbefangener, machten sich langsam selbständig. Schließlich verwischten sich alle Standesunterschiede, es handelte sich nur noch um Frauen, die beim Hausfrauentum auf Frauenart ihre Frauensachen besprachen. Die Madame, die so lange sachkundige, wesensgleiche Beichtiger entbehrt hatte, fing an auszupacken, sich Eheschmerzen und enttäuschungen von der Seele zu reden, und hatte sie erst einmal begonnen, lief die Litanei unaufhaltsam gewöhnlich so weit, bis nichts mehr zu enthüllen übrig blieb.
Für Paula war es eine unschätzbare Bestätigung und Steigerung ihrer Selbständigkeit der Welt gegenüber und, rein für sich genommen, ein Genuß, dem kaum etwas gleichkam. Deutlicher und handgreiflicher schien ihr jetzt bewiesen, was sie frühzeitig am Vergleich der Wirklichkeit mit der bei Pickerts erschlichenen Bücherwelt gemerkt hatte: der Gegensatz zwischen der Lebensfassade und dem, was hinter ihr getrieben wird. Nicht, daß Paula sich moralisch entrüstete – sie glaubte vielmehr, den Unsinn jeder Art von moralischer Entrüstung zu entdecken. Das ganze Getu nach außen hin war Schwindel. Kam man auf den Kern der Dinge, kümmerte sich, wer konnte, den Teufel um das, was für ehrsam, anständig, reputierlich ausgegeben wurde. Nicht einmal in dieser Stadt, die als eine Hochburg frommen, sittsamen Wandels galt! Paula glühte vor innerer Genugtuung, wenn sie dahinterkam, daß die Fabrikbesitzerin unter den Orgien litt, die ihr Gatte angeblich nachts in den Büroräumen veranstaltete, daß der Bankdirektor eigentlich zwei Frauen hatte, der allgemein geachtete, pedantische Rat der Seinen Ungeheuerliches zumutete, bei Apothekers jeder Teil, Herr und Frau seine eigenen sexuellen Wege ging, und sogar die Amtsrichterehe irgendeinen perversen Knacks besaß. Paula merkte sich haarscharf die Einzelheiten jeder Enthüllung, man ahnte nie, wozu es einmal gut sein konnte, jedenfalls sammelte sie sich einen eigenen Fonds skandalöser Mitwisserschaft. Das blieb ihr besondrer Besitz, denn die Mutter hörte zwar genau das gleiche, aber sie hörte es eben nur an, ohne eine Folgerung daraus zu ziehen oder eine Möglichkeit fruchtbarer Verwendung darin zu vermuten. Für die alte Frau waren es alltägliche Geschichten, man vertrieb sich die Zeit damit, die Welt war nun einmal so, so war sie immer gewesen, den reichen Leuten geht es im Grund eben auch nicht viel besser als unsereinem, jeder hat sein Päckchen zu tragen, vor allem, was ein Weib ist! Von dem Herrn mit dem starken Brillantineduft am Scheitel war sie damals auch schlimm angeschmiert worden, nun saß sie da mit dem Bankert, der noch dazu ein undankbares, böswillig verschlossenes Geschöpf war, obendrein schiech, ihr, der ehemals als bildschön verschrieenen Ernestine Bernert, zum Trotz! Die Mutter sah Paula mißbilligend an und hatte ganz vergessen, daß das Mädchen seinen Körperfehler ihrer sehr unmütterlichen Jähzornigkeit verdankte. Und es kam zum größten Konflikt mit der Alten, als Paula ihre Erfahrungen das erste Mal rücksichtslos auszubeuten suchte.
Mutter und Tochter schneiderten damals im Haushalt der Witwe Kausch, die in der ganzen Stadt als mürrischer Geizkragen bekannt war. Sie entstammte niedrigen Verhältnissen, der bettelarmen, mit unzähligen Kindern gestraften Häuslerfamilie eines Fabrikdorfes, war Dienstmagd hier in der Stadt gewesen und hatte den Pfefferküchlergesellen Kausch kennengelernt, als sie schon einen großen Teil ihres Lebens hinter sich gebracht, aber im Laufe ihrer Dienstjahre eine beträchtliche Summe gespart hatte. Mit dem Gelde der Frau machte Kausch sich bald nach der Hochzeit in einem kleinen Laden der Pilzgasse selbständig. Da beide sich nichts gönnten, emsige und karge Menschen waren, die so gut wie gar keine Ansprüche ans Leben stellten, auf keinerlei Vergnügen Wert legten, nur die Arbeit kannten, beständig Angst hatten, in das Elend zurückzuverfallen, das sie bei ihren Eltern gesehen hatten, wurden sie langsam, aber sicher wohlhabend. Nach einigen Jahren konnten sie das Geschäft vergrößern, der kleine Laden in der Pilzgasse wurde zur Filiale degradiert, an der Hauptverkehrsader, in der Breslauerstraße, zwischen Bahnhof und Ring, Pfarrkirche und Stadtcafé, prangte mit zwei großen Schaufenstern »Bruno Kausch, Pfefferkuchenfabrik«, schließlich gehörte ihnen das ganze weitläufige Haus.
Aber grade als der Mann, endlich reich und angesehen, schüchtern anfangen will, auch einmal an sich selbst zu denken und in bescheidener Weise etwas vom Leben zu haben, fällt ihn gleich der erste, harmlose Versuch eines Privatvergnügens. Schon immer hatte ihn das nahe Gebirge gelockt, denn er stammte aus einer hoffnungslos ebenen Gegend, war noch nie auf einem Berge gewesen. Endlich kam es so weit, daß er sich einen Ruck gab, sich zu einer viertägigen Hochtour Zeit nahm. Am zweiten Tage sollte der Altvater bestiegen werden, kein erschreckend steiler Gipfel, 1490 m, aber die Sonne brannte, Papa Kausch war schon lange unterwegs, glühte am ganzen Leibe, hatte einen unbändigen Durst. Bei einer der vielen, unablässig rieselnden Gebirgsquellen legte er sich auf die Erde und schlürfte gierig das eiskalte Wasser. Gleich danach hatte er wahrhaftig an eine lehrhafte Geschichte aus seiner Schulfibel denken müssen, die warnend von einem Knaben erzählte, der mit ähnlich unverständiger Gier sich den Tod holte. Auf den Altvater war Kausch nicht mehr gekommen, fiebernd machte er auf halber Höhe kehrt, fuhr vorzeitig nach Haus, legte sich ins Bett und starb zwei Tage später.
Seine Witwe wurde nun bis zur Wunderlichkeit sparsam, besser gesagt: knausrig. Die Art, wie ihr Mann ums Leben gekommen war, bewies ihr, daß für Menschen ihres Schlages jeder Versuch, die ihnen angemessene Kargheit zu unterbrechen, eine Überheblichkeit war, die vom Schicksal tödlich geahndet wurde. Bald galt es für eine Strafe des Himmels, bei der Haus- und Fabrikbesitzerin Kausch angestellt zu sein oder in irgendeiner Form mit ihr geschäftlich zu tun zu haben. Kein Dienstmädchen hielt es länger als einen Monat aus, schließlich mochte niemand zu Frau Kausch in Stellung gehen. Nun erledigte die Gnädige selber die peinlichen und schmutzigen Dienstleistungen, schlampte in abgewetztem, beflecktem Habit herum, lag im Hofe auf allen Vieren und besserte, den Klempner zu sparen, eigenhändig den Gulli aus. Lebte in ständigem Kleinkrieg mit den Mietern, weil immerzu der Zins gesteigerter und nichts im Hause erneuert wurde, ehe nicht der Fall unhaltbar war und die Baupolizei ein Machtwort sprach. Und sie genierte sich nicht, bei Tageslicht mitten auf dem Wege eine weggeworfene Zigarettenschachtel oder ein Stück Packpapier aufzuheben, war doch alles irgendwie zu verwerten und durfte nicht umkommen.
Ihre Tochter Elfriede aber schämte sich der Mutter und wurde in allem ihr entschiedner Widerpart.
V
Sie besuchte die Höhere-Töchter-Schule und war ungefähr im gleichen Alter wie Paula. Anfangs nahm sie von den Bernerts keinerlei Notiz, wenn sie zufällig einmal durchs Zimmer mußte, wo ihre Mutter aufpaßte, daß ja kein Stoffrest verlorenging, und aus einem so und so oft reparierten Kleide immer noch etwas halbwegs Verwendbares zurechtgestoppelt wurde. Wie ekelhaft Mama diesem schäbigen Schneiderweib glich! Richtig hexenhaft hockten die beiden in dem Unrat von Lappen und Fetzen; welche Schande, von so etwas abzustammen! Wenn sie an ihre Mitschülerinnen: die Bielauer Baronesse, die Tochter vom Kommerzienrat Hahn oder die Landrat-Lotte dachte, kamen ihr Tränen ohnmächtiger Wut. Krachend schlug sie die Tür hinter sich zu.
Da kramte die Witwe Kausch seufzend vor der Bernert-Alten ihre mütterlichen Bekümmernisse aus. Ganz aus der Art geschlagen sei das Mädel, die Elfriede, hochmütig, verschwenderisch, vergnügungssüchtig. Woher sie das bloß hätte, sie, die Kausch, und ihr Bruno, Gott hab’ ihn selig!, wären doch gewiß anders gewesen, von ihnen hätte sie derlei nicht lernen können! »Für nichts Ernstes hat Ihnen das Mädel Interesse, jede Arbeit ist ihr zu schwierig oder zu niedrig, nur an Putz und Bequemlichkeit denkt der Fratz, jeder Sechser muß vernascht werden, vom Sparen hält sie nichts und mit ihrer Garderobe geht sie um, als ob sie nichts koste, und immerzu möchte sie etwas andres, ein paar neue Schuhe, einen neuen Hut oder Mantel. Als ob sie nicht an mir das beste Beispiel hat, wie lange trage ich schon die Winterpelerine, und sie sieht noch immer leidlich aus, und was kann man nicht noch alles aus einem alten Stück machen! Aber nein, die Elfriede muß immer gleich alles wegschmeißen, es bleibt ein Kreuz, wie das einmal enden soll! Wenn ich die Augen zudrücke und niemand mehr da ist, der aufpaßt, wird sie bei ihrer Verschwendungssucht bald alles durchgebracht haben«, lamentiert Frau Kausch in einer ehrlichen Besorgnis, die Paula äußerst lächerlich erschien. Noch größren Spaß machte ihr das Lob, das die alte Kausch ihr selbst dann spendet: »Ja, ja, liebe Frau Bernert, ich bin recht mit meinem Kinde gestraft! Da stehen Sie anders da! Ich kann garnicht sagen, wie sehr ich