Der letzte Leopard. Lauren St John
aussprach, blickte sie Martine eindringlich an.
Martine tat so, als merke sie es nicht. Sie saß mit verschränkten Armen ruhig auf ihrem Stuhl. Tief in ihren Augenhöhlen brannten die Tränen. Alles und alle schienen sich immer wieder gegen sie und Jemmy zu verschwören. Wenn sie nicht gerade auf einer Insel gestrandet war oder nicht auf Jemmy reiten durfte, lauerten Wilderer im Reservat, um ihn zu entführen. Außerdem konnte sie sich nicht daran erinnern, dass ihre Großmutter je von Sadie gesprochen hatte, und jetzt war sie plötzlich eine ihrer ältesten und besten Freundinnen. Konnte Sadie nicht jemanden aus der Gegend um Hilfe bitten? Simbabwe war ja nicht gerade um die Ecke, sondern mehr als 1500 Kilometer entfernt.
Die Matobo-Berge mit ihren außergewöhnlichen Felsformationen und dem verlorenen Schatz des Ndebelekönigs waren zweifellos ein faszinierendes Reiseziel. Und sie hatte schon immer auf einem Pferd reiten wollen. Doch wenn sie die Wahl gehabt hätte, wäre sie in Sawubona bei Jemmy geblieben.
Ben, der genau wusste, wie viel Martine ihre geliebte weiße Giraffe bedeutete, sagte: «Kann ich irgendetwas tun? Vielleicht könnte ich an Martines Stelle mit Ihnen nach Simbabwe kommen und mich im Hotel irgendwie nützlich machen. Ich bin zwar noch nie auf einem Pferd geritten und ich muss natürlich noch meine Eltern fragen, aber ich würde das schon hinkriegen, oder ich könnte wenigstens die Pferde füttern, den Stall ausmisten oder so. Dann könnte Martine hier bei Jemmy bleiben. Äh, natürlich nur, wenn Sie wollen …» Seine Stimme wurde brüchig.
«Ben, das ist wirklich ein großzügiges Angebot, aber Martine kann unmöglich allein hier bleiben», sagte Gwyn Thomas. «Tendai hat keine Zeit, sich auch noch um sie zu kümmern. Außerdem weiß ich nicht, ob deine Eltern dich für vier Wochen mit uns nach Simbabwe fahren lassen, und dazu noch in eine so abgelegene Gegend. Aber falls sie es erlauben, würden wir dich natürlich nur allzu gerne mitnehmen. Da wärst bestimmt auch du einverstanden, Martine?»
Martine war hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie Jemmy nicht allein zurücklassen, andererseits wollte sie nicht, dass Ben ohne sie eine Abenteuerreise unternahm.
«Martine», sagte Gwyn Thomas mit einem warnenden Unterton, «vergiss deine Manieren nicht. Wir würden uns doch freuen, wenn Ben mit uns nach Simbabwe käme?»
«Das weiß Ben, ohne dass ich es ihm unter die Nase reiben muss», murmelte Martine.
Normalerweise hätte Gwyn Thomas ihre Enkelin für ein derart rüdes Benehmen ausgescholten, doch jetzt seufzte sie nur. «Martine, das Allerletzte, was ich will, ist, dich von Jemmy zu trennen oder dich unglücklich zu machen. Aber ich mache mir echte Sorgen um Sadie. Ich hatte das Gefühl, dass … Aber vielleicht bilde ich mir das nur ein.»
«Was?», drängte Ben.
«Wahrscheinlich ist da gar nichts, aber ich habe irgendwie das Gefühl, Sadie hat mir etwas verschwiegen. Ich kenne wohl keine stolzere und unabhängigere Frau als sie, und dennoch hat sie mich praktisch angefleht, ihr zu helfen. Das passt einfach nicht zu ihr. Deshalb werde ich das Gefühl nicht los, dass da – abgesehen von ihrem Unfall – etwas nicht in Ordnung sein könnte.»
Sie ergriff Martines Hand. «Ich spüre einfach, dass sie uns braucht. Kannst du das verstehen?»
Was sollte Martine da noch einwenden? Ihre Großmutter hatte so viel für sie getan.
«Es tut mir leid», sagte sie und umarmte Gwyn Thomas. «Es kam einfach etwas überraschend. Natürlich verstehe ich das. Ich werde Jemmy ganz furchtbar vermissen, aber ich freue mich auch, ein anderes Land kennenzulernen, vor allem wenn wir Sadie helfen können und ich nebenbei noch auf Pferden reiten kann.»
«Schön», sagte ihre Großmutter sichtlich erleichtert. «Dann sollten wir uns sofort ans Packen machen. Ich will, dass diese Reise für euch zu einem Ferienerlebnis wird. Die Fahrt wird lang sein, deshalb werden wir ein- oder zweimal in Rainbow Ridge übernachten und auch bei anderen Sehenswürdigkeiten unterwegs Halt machen. Komm Ben, wir rufen gleich deine Eltern an.»
Gwyn Thomas drückte Martines Hand und sagte: «Wir werden Spaß haben, ich verspreche es dir.»
Martine behielt ihr Lächeln auf den Lippen, bis ihre Großmutter und Ben die Küche verlassen hatten. Dann stürmte sie aus dem Haus und über den Sandweg zum Tierasyl, setzte sich neben das Gehege mit den zwei verwaisten Wüstenluchswelpen und brach in Tränen aus.
Sie konnte es wirklich verstehen, dass ihre Großmutter nach Simbabwe fahren wollte, um einer guten Freundin zu helfen, die sie dringend brauchte. Sie war auch überzeugt, dass sie genau gleich handeln würde, wenn jemand, der ihr nahe stand, Hilfe brauchen würde. Sie konnte aber beim besten Willen nicht verstehen, warum auch sie in die Matobo-Berge fahren musste. Wenn Ben mitkommen durfte, würde es zwar nur halb so schlimm werden. Aber vier lange Wochen ohne ihre besten Freunde zu sein, würde sich wie eine lebenslängliche Gefängnisstrafe anfühlen. Es musste doch hier in Storm Crossing jemanden geben, bei dem sie wohnen könnte. Zum Beispiel …
Plötzlich war Martines Trauerstimmung wie verflogen. Weshalb hatte sie nicht früher daran gedacht? Sie könnte doch bei Grace, Tendais Tante, wohnen. Grace war eine Sangoma, eine Medizinfrau und Heilerin, deren Vorfahren aus dem Volk der Zulu und aus der Karibik stammten. Gleich nach ihrer Ankunft in Afrika hatte Martine eine besondere Beziehung zu Grace entwickelt, denn Grace hatte ihr als Erste gesagt, dass sie eine geheime Gabe hatte, die ihr Schicksal prägen würde. «Die Gabe kann sein ein Segen, aber auch ein Fluch. Du musst entscheiden weise», hatte sie Martine wenige Stunden, nachdem sie in Kapstadt gelandet war, geraten.
Die Gabe war selbst für Martine ein Rätsel. Sie wusste, dass sie etwas mit Heilkräften und einer alten Zululegende zu tun hatte, wonach ein auf einer weißen Giraffe reitendes Kind über alle Tiere herrschen würde. Gerade dies aber war für sie, die vor Kurzem von einer Biene gestochen wurde und deren Arme immer noch von der Begegnung mit dem Warzenschwein schmerzten, mit einigen Fragezeichen verbunden.
Schon zweimal hatte sie ihre Zukunft in geheimnisvollen Malereien auf einer Höhlenwand gesehen. Die Höhle befand sich ganz hinten im Geheimen Tal, dem Refugium der weißen Giraffe. Und die Malereien hatten beide Male erst einen Sinn ergeben, als sie die vorgezeichneten Ereignisse tatsächlich erlebte.
«Das ist nicht fair», hatte sich Martine bei Grace beklagt. «Wenn die Buschmänner des San-Stammes so viel über mein Schicksal wussten, hätten sie ihre Malereien doch etwas verständlicher gestalten können. Dann wäre es mir nämlich gelungen, all die negativen Ereignisse abzuwenden. Wenn ich zum Beispiel gewusst hätte, was sich im Juni auf dem Schiff ereignen würde, wäre ich niemals an Bord gegangen.»
«Genau», hatte Grace geantwortet. «Wenn du könntest blicken in deine Zukunft, du würdest dich nur für das Angenehme und das Bequeme entscheiden. Dann würdest du gar nicht kennenlernen und erleben das Wichtige in dieser Welt, denn oft sind die wichtigen Dinge auch die schwierigsten. Wenn du nie gegangen wärest auf dieses Schiff, wo wären jetzt die Delfine?»
«Oh», hatte Martine damals gesagt, «oh, jetzt verstehe ich dich.»
Martine fühlte sich sehr wohl in der Gesellschaft von Grace. Sie war eine weise, lustige Frau, die faszinierend viel über afrikanische Medizin wusste. Sie mochte ihr exzentrisches Haus, in dem Hühner ein- und ausgingen, vor allem aber mochte sie ihre leckeren Bananenpfannkuchen. Allerdings würde Gwyn Thomas ihre Enkelin nach längerem Aufenthalt bei Grace wohl dreimal so schwer vorfinden wie vor ihrer Abreise. Vielleicht würde sie dies allerdings positiv werten, weil sie und Grace ständig versuchten, Martine zu mästen.
Je länger Martine darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Idee, während der Abwesenheit ihrer Großmutter bei Grace zu bleiben. Schließlich war Grace die beste Freundin von Gwyn Thomas in Storm Crossing – was konnte sie schon dagegen einwenden? Jetzt musste sie nur noch Grace überzeugen.
Der Plan hatte in ihren Gedanken gerade erst konkrete Formen angenommen, als sie eine Stimme mit breitem karibischen Akzent hörte: «Ich habe gerade getrunken Tee mit meinem Neffe, da höre ich doch dieses fürchterliche Heulen und Schluchzen. Und ich habe gesagt zu