TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов

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sich übergangen und überfordert fühlten. Wir wurden natürlich auch denunziert und dann kamen die Hausdurchsuchungen, der Arrest und alles.

      Und außerhalb dieses Literaturkreises?

      Alle in meinem Freundeskreis haben schon sehr früh angefangen zu schreiben, auf dem Gymnasium schon, Gedichte vor allem. Wir schrieben, wir tauschten uns aus, wir diskutierten über das, was wir gelesen hatten. Aber wir teilten auch dieselben Anschauungen, wir hassten diesen Staat und diese Unterdrückung, dieses Maulhaltenmüssen, und wir teilten auch die Angst. In unserer Gruppe waren wir zu Hause, nur dort wurde offen über die unmöglichen Zustände gesprochen. Das hat uns zusammengeschweißt. Und auch, nachdem unsere Gruppe verboten worden war, blieben wir Freunde. Selbst dann, als wir nach dem Studium über das ganze Land verteilt wurden. In Rumänien war es eine allgemeine Pflicht, dass man drei Jahre nach dem Studium irgendwo in dem Beruf arbeitete, auf den hin man studiert hatte. Wo das war, entschied der Staat. Das war die beste Gelegenheit, uns so weit auseinander zu bringen, dass wir uns nur noch sehr selten sehen konnten. Ich musste in die Moldau, eine Gegend ganz im Osten, an der Grenze zu Moldawien, andere mussten im Süden arbeiten. Aber selbst in der Zeit verloren wir den Kontakt nicht. Das waren enge Freundschaften, fast als wäre man Geschwister, daran konnte die Geheimpolizei nichts ändern.

      Haben sich Ihre Lektüren dann gravierend verändert, als Sie 1987 nach Deutschland gekommen sind?

      Eigentlich nicht, mich hat nach meiner Ausreise nach wie vor das Thema Diktatur interessiert, nicht nur die in Rumänien, sondern auch in anderen Ländern. Was sich aber in Deutschland änderte: Ich konnte schreiben, was ich wollte, ich musste nichts mehr verstecken. Ich konnte einfach in eine Buchhandlung oder in eine Bibliothek gehen, um mir ein Buch zu besorgen. Also sind ganz andere Beziehungen zu Menschen, zu Büchern, möglich geworden und natürlich dann auch neue ästhetische Erfahrungen. Ich hatte nun auch den Wunsch nach Lektüre jenseits des notwendigen Verstehens des Lebens. Vielleicht hätte ich manches Buch früher in Rumänien nicht gelesen, was ich in Deutschland las, zum Beispiel die sehr, sehr großartigen Bücher von Per Olov Enquist, die nichts mit Diktatur zu tun haben. Ich halte ihn für einen großartigen Stilisten. Dass solche Lektüren dazu kamen, war vielleicht neu. Ich selbst habe so viel über Diktatur geschrieben oder schreiben müssen, weil ich so kaputt war und weil ich den Kopf bei gar nichts anderem hatte und weil es ja die Diktatur in Rumänien die ersten Jahre, in denen ich in Deutschland lebte, immer noch gab. Es tut weh, wenn man grauenhafte Verhältnisse selbst erlebt hat und weiß, dass andere sie immer noch erleben, und man kann eigentlich nichts für sie tun, außer man spricht und schreibt darüber. Ich fand, das sei das Mindeste, was ich tun könnte, aber selbst wenn ich diesen Grund nicht gehabt hätte, ich hätte so oder so über nichts anderes schreiben können.

      Über Theodor Kramer, Bernhard oder auch Márquez haben wir gesprochen. Sind denn aus der Gegenwartsliteratur noch Bücher dazugekommen, denen Sie einen ähnlichen Stellenwert wie den Büchern der Genannten zusprechen würden?

      Ja, immer wieder. Ich habe gerade »Auf Erden sind wir kurz grandios« von Ocean Vuong gelesen. Ich könnte das ganze Buch abschreiben, es ist so grandios. Als Leserin bin ich total ungeschützt. Ich lese ganz langsam und wenig und bemühe mich darum, dass das Buch noch eine Weile hält. Aber mit anderen Büchern bin ich ungeduldig, Bücher, in denen ich nichts finde. Weil ich als Leserin so ungeschützt bin, lasse ich mich auch nicht vereinnahmen. Wenn ich an einem Buch nichts finde, zwanzig, dreißig Seiten lang, dann sage ich, ist gut, ist nicht für mich, ist nicht meine Sache.

      In früheren Interviews, auch in einigen Essays, haben Sie über die Gemengelage verschiedener Sprachen, Sprachstandards und -register – Deutsch, Rumänisch, Mundart, Hochdeutsch und so weiter – gesprochen, die ihrer Literatursprache den ganz charakteristischen Ton verleiht. Ist das eigentlich auch nach der langen Zeit der Entfernung von Rumänien und aus den anderen Sprachkontexten so, dass beispielsweise das Rumänische nach wie vor im Hintergrund mitschreibt?

      Ja, das Rumänische ist da, oft unterschwellig. Manchmal ist mir die andere Sprache bewusst und manchmal auch nicht. Manchmal finde ich das rumänische Bild einfach besser. Der Pfirsich beispielsweise heißt im Rumänischen die »piersică«, und dadurch hat der Pfirsich bei mir ein Samtkostüm, wegen des femininen Genus des rumänischen Pfirsichs. Ich gebe auch dem im Deutschen maskulinen Pfirsich ein Kostüm und nicht etwa einen Samtanzug, einfach weil der rumänische Pfirsich schöner ist, feminin. Sprache verändert die Ästhetik, und wenn man, bewusst oder unbewusst, in mehreren Sprachen schreibt, dann kann man gar nicht mehr von einer Ästhetik sprechen, man muss das Wort in den Plural setzen, Ästhetiken oder so. Die Worte in einer bestimmten Sprache haben ja einen eigenen, ihren eigenen Blick und ihre eigene Befindlichkeit in jeder Sprache. Und oft ist mir die Befindlichkeit des rumänischen Wortes näher als die des deutschen Wortes.

      Das sind jetzt aber keine wirkungsstrategischen Entscheidungen zur Gestaltung von Fremdheitseffekten, oder?

      Eine meiner Erzählungen trägt den Titel »Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt«. Das ist eine aus dem Rumänischen übersetzte Redewendung, von der man im Rumänischen genau weiß, was sie bedeutet: Der Mensch ist ein Verlierer. Im Deutschen erschließt sich diese Bedeutung erst einmal nicht. Aber ich hatte in der Erzählung die Möglichkeit, die Redewendung so zu platzieren, dass der deutsche Leser ahnt, was gemeint ist. Fasane sind tapsig und finden sich nicht so gut zurecht. Die Rumänen haben dies als Ausgangspunkt für die Metapher genommen. Der Mensch ist ein Fasan, weil er sich nicht, weil er sein Leben nicht im Griff hat. Das ist der Unterschied zum deutschen Fasan, der eher ein Bild für Arroganz liefert. Darum ist mir der rumänische Fasan viel näher als der deutsche. Ich liebe den rumänischen Fasan, nicht den deutschen. So geht es mir mit vielen Wörtern. Und nicht nur mir, sondern wohl jedem, der in seinem Leben mehrere Stationen hinter sich gebracht hat, mehrere Auftenthaltspunkte, mehrere Orte in der Welt. Wenn ich ›Frankfurt‹ lese, finde ich dieses Wort jedes Mal aufs Neue großartig, denn ›Furt‹ heißt auf Rumänisch ›Diebstahl‹. Und dass nun ausgerechnet viele Banken in Frankfurt sind, das ist zwar ein Zufall, aber ein schöner Zufall. Zufall ist so schön.

      Das funktioniert allerdings nur, wenn man beide Sprachen gleichermaßen beherrscht.

      Ja, ich kann sie vielleicht nicht gleichermaßen, aber ich kann sie. Ich könnte nicht auf Rumänisch schreiben.

      Heißt das, die 2005 in dem Band »Este sau nu este Ion« erschienenen rumänischen Collagen sind übersetzt?

      Nein, dieser Band enthält Collagen, für die ich das Textmaterial ausgeschnitten habe. Ich wollte zeigen, was für eine großartige Sprache das Rumänische ist, eine Sprache, in der sich viele Wörter reimen, auch die Ironie besser funktioniert als im Deutschen. Das vermeintlich Vulgäre, die Diminutive, all das hat eine ganz andere Bedeutung als im Deutschen. Es gibt unterschiedliche ästhetische Grundsätze in den beiden Sprachen. Wenn ich auf deutsch »Kaffeechen« sage, ist das ganz etwas anderes, als wenn ich im Rumänischen »cafeluța« sage. Und so ist es auch mit dem Fluchen. Weil ich von diesen Unterschieden wusste, wollte ich zumindest einmal auch Collagen mit rumänischen Texten herstellen. Zudem besaß ich viel Material. Zwei Jahre lang arbeitete ich nur mit rumänischen Zeitschriften an rumänischen Collagen, aber dann war Schluss. In irgendeiner der Schubladen hier müssen noch viele rumänische Wörter liegen, ich werfe sie nicht weg, sie bleiben hier, sie dürfen hier sein wie die deutschen Wörter auch.

      Mehrsprachigkeit ist also eine Chance für Literatur?

      Ich finde, Randliteraturen sind oft so interessant, weil sie in Kontakt zu anderen Sprachen und Ländern stehen. An den Rändern geht viel durcheinander, die, die an Rändern wohnen, bekommen von all dem jenseits der Grenzen etwas mit, und all dieses Andere hat natürlich seine eigene Sicht, einen eigenen Blick.

      Mich würde noch ein anderer Aspekt Ihrer Sprache interessieren, nämlich das wiederholte Aufgreifen von Redewendungen.

      Also, ich finde, das Schönste an der Sprache ist die Verblüffung, ist, wenn jemand ahnungslos etwas Großartiges sagt, einen Satz, der in sich viele Bedeutungen birgt. Da horche ich richtig auf. Die sagen das nicht absichtlich, sondern es ist einfach intuitiv so. Oft versteckt sich gerade auch in Redewendungen Großartiges, jede Sprache besitzt solche Fertigteile, die nicht ideologisch sind, die einfach überliefert


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