Das Werk des Staatsministers. Bo Balderson
Mittlerweile waren wir alle aus dem Auto gekrabbelt, und Generaldirektor Västermark stellte uns vor und ich fest, dass Frau Lind richtig süß, obgleich staubig war. Glühendrot, zerzaustes braunes Haar, Stupsnase und runder Hintern. Bestimmt eher an die Dreißig denn an die Vierzig, sah sie aus wie eine richtige, altmodische Hausfrau beim Großreinemachen.
»Gucken Sie mal, wie mein Kleid jetzt aussieht! Und ich bin gleich zum Abendessen eingeladen!«
»Woher haben Sie das Fahrrad?«
Das wollte Generaldirektor Västermark wissen.
»Das Fahrrad? Das stand an einem Milchbock.«
»Aber Sie können doch nicht einfach ein Fahrrad mitnehmen!«
»Nein? Das müssen Sie gerade sagen, der Sie Leute auf tagelange Märsche mitschleppen und die ganze Zeit versichern, dass es nicht mehr weit ist, und dann sind es noch zehn Kilometer! Außerdem war es nicht abgeschlossen. Und es taugt nichts, hat einen Linksdrall. Und ich bin nur ein paar Kilometer gefahren, so dass der Besitzer es bestimmt finden wird. Aber ich sehe wirklich hervorragend aus! Warum machen Sie eigentlich kein Foto mit Ihrer Kanone von Kamera?«
Lisa Lind hatte aus einer Rockfalte einen Spiegel gezogen. Es zuckte um ihren Mund, und zuerst kam ein nettes Kichern und dann ein Lachen mit gesunden, aber etwas unregelmäßigen Zähnen.
Uns blieb nichts anderes übrig, als in das Gelächter einzustimmen. Der Generaldirektor und Chef der Polizeibehörde machte eine Aufnahme und beförderte, leicht nachlässig für meinen Geschmack, das Fahrrad halb in den Graben. Dann krochen wir ins Auto zurück. Nach einigen Höflichkeitsfloskeln, wer zuerst hineinkrabbeln sollte, startete Niklas Svennberg den Motor von neuem.
Bei der Abzweigung hinunter zum Dampfschiffanleger hatte ein hellblaues Auto sportlichen Zuschnitts am Rasenrand angehalten. Der Fahrer stand daneben und machte ein etwas desorientiertes Gesicht, wie es bei Autofahrern außerhalb ihrer Hülle so oft der Fall ist.
»Da ist ja Zander!« rief Niklas Svennberg wie ein sklavischer Namensausrufer aus der Antike und bremste. »Er hat auch ein Sommerhaus auf Norrön und ist mit von der Partie. Jetzt weiß er natürlich den Weg nicht genau.«
Ich spähte interessiert, fast unschüchtern durch die Windschutzscheibe. Konnte es angehen …? Das da war – natürlich! Vernimmt man einen Namen auf Lindö – diese Gerechtigkeit musste man der Insel widerfahren lassen –, dann gehörte er dem Original, war kein unbekannter Namensvetter, kein blasser Abklatsch.
Nicht, dass Ulrich Zander ein Mann gewesen wäre, der in der breiten Öffentlichkeit besonders bekannt war. Es ging hier nicht um ein Popidol oder einen Sporthelden. Aber als aufmerksamer Zeitungsleser und Schwager eines Staatsministers kannte ich seit langem vom Hörensagen den Mann da draußen auf der Fahrbahn. Ulrich Zander – Wirtschaftsexperte der Partei, treibende Kraft hinter einer Unmenge von Untersuchungen, Vorstandsvorsitzender der Staatsbetriebs AG und seit einigen Jahren Staatssekretär im Industrieministerium.
Die Vergabe des Staatssekretärsposten in unserem vielleicht am stärksten gefährdeten Ministerium beruhte nicht auf Zufall. So hatte man es seit vielen Jahren gehandhabt: Wurde plötzlich eine starke und rücksichtslose Kraft zum Aufräumen gebraucht, dann schickten Regierung und Partei Ulrich Zander. Er war allzeit bereit, schaffte immer etwas mehr und hatte da Erfolg, wo man Erfolg haben konnte. Ich hatte oft gefragt, warum er nicht in die Regierung aufgenommen wurde, und der Staatsminister hatte stets geantwortet: »Er wird aufgenommen, wenn er erst einmal diese Sache bereinigt hat!« Aber es ergaben sich immer wieder neue Krisen, die Ulrich Zander bereinigen musste. Und ein Mann der obersten Parteiführung war er nicht. Ein solider bürgerlicher Hintergrund (Mutter Deutsche, eine geborene Baronesse von und zu Hohenlohe), eine gewisse Eckigkeit im Umgang und ein erstaunliches Vermögen, Einfalt und Schwerfälligkeit auszuhalten, hatten hier zusammengewirkt. Ferner wurde mit gewissem Misstrauen betrachtet, dass der Mann seine gesamte Karriere als Problemlöser und Denkmaschine hinter den Schreibtischen der Staatskanzlei absolviert hatte – von der Wehrpflicht bei der Kommandoabteilung bis zur Stellung als Staatssekretär im Industrieministerium. Veterane der Bewegung brummelten etwas von »Treibhausgewächs der Politik«. Doch alle mussten seine Fähigkeiten anerkennen. Und vor ihm hatten schon andere diesen Weg beschritten …
»Hallo, Sie da!« rief Niklas Svennberg, und Ulrich Zander beschattete seine Augen mit der Hand und kam, um uns Guten Tag zu sagen.
Ich hatte bereits feststellen können, dass er nicht zu der Sorte von Politikern gehörte, die fehlende Verdienste an der Front der Werktätigen mit Arbeiterkluft zu kaschieren versuchten. Er trug einen eleganten, fast snobistischen Anzug aus hellem, glänzendem Stoff. Auch oberhalb des Strickschlipses sah er besonders volksnah aus. Markante, indianerhafte Züge eines Fünfzigjährigen, hohe Stirn, scharfer Blick. Er stellte sich mit der vollen Nennung seines Namens vor, jedoch ohne Titel – Hochmut oder Bescheidenheit? – und teilte mit, dass sein letzter Besuch beim Staatsminister auf Lindö schon vier Jahre zurücklag.
»Er hat gesagt, ich soll hinter der Mühle die erste Abfahrt nach rechts nehmen. Und das müsste hier sein. Aber ich finde mich überhaupt nicht zurecht.«
Ich erklärte ihm, dass es sich um ein Missverständnis handelte, das oft auftrat – der Staatsminister hätte hinter der Mühle die zweite Abfahrt nach rechts sagen müssen. Aber als er als kleiner Sommerfrischler nach Lindö kam, verlief hier nur ein Fußweg im Gras, auf dem das Viehzeug des Dorfes zum Trinken ans Wasser getrieben wurde, und der Kindheitseindruck war prägend geworden (wie so häufig bei konservativen Menschen), und er war jetzt nicht mehr in der Lage zu lernen, dass der Weg schon längst zur Straße geworden war. Sein Vater und Großvater hatten zu ihren Gästen »Nimm hinter der Mühle die erste Abzweigung nach rechts!« gesagt, und auch der Staatsminister sagte »Nimm hinter der Mühle die erste Abzweigung nach rechts!« zu seinen Gästen.
Ulrich Zander machte keinen überraschten Eindruck, umgab seine lange, sehnige Gestalt mit dem babyblaufarbenen Sportwagen (bestimmt eine weitere Prüfung für die breiten Gelenke) und war hinter der Steigung verschwunden, ehe Niklas Svennberg die Handbremse lösen konnte.
»Alter Mann hat’s eilig«, murmelte er neidisch vor sich hin und löste die Handbremse.
Während der noch verbleibenden Fahrt lauschten wir Generaldirektor Västermark, der hochtrabend und weitschweifig von einem weiteren Fall aus seiner Praxis berichtete. In der ersten Woche seiner Amtsausübung hatte sich eine offensichtlich aufgebrachte Person – er bedauerte, sich aufgrund der Schweigepflicht nicht genauer ausdrücken zu können – gemeldet und die Polizei beschuldigt, eine Abhöranlage in ihren Telefonhörer eingebaut zu haben. Eine Untersuchung ergab, dass das Telefon tatsächlich abgehört wurde, aber nicht von der Polizei, sondern von der besseren Hälfte dieser Person, weil sie Untreue witterte …
Hier schwieg Arvid Västermark endlich, da das Auto angehalten hatte und er Villa Björkero erblickte, das von den Vorfahren ererbte Sommerhaus des Staatsministers.
3
Das Haus kann in der Tat den redseligsten Menschen in erstauntes und misstrauisches Schweigen versetzen. Ob man es vorher schon einmal zu Gesicht bekommen hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Der Anblick ist immer wieder ein Schock. Mit Stockwerken, Veranden, Türmchen, Erkern, Spitzen und Ornamenten verziert, die sich neben- und übereinander stapeln, vermittelt es fast den Eindruck eines nachlässig zusammengetragenen Maifeuers. Es hätte nur noch das Feuer gefehlt, nur das Feuer, das ihm zu einer Daseinsberechtigung verhelfen konnte. Jeden Sommer hoffe ich von neuem, dass der Blitz seine Aufgabe erfüllen möge oder auch das Eis oder die Halbstarken vom See. Aber es steht jedes Mal noch an Ort und Stelle.
»Sah es wirklich so übel aus?« murmelte Generaldirektor Västermark und zog den Reißverschluss seiner Windjacke herunter, wie um sich Luft zu verschaffen.
Genau das war der Fall, aber auf dem Rasen stand meine Schwester Margareta und empfing uns. Sie ist in vielerlei Hinsicht eine bewundernswerte Frau. In gut zwanzig Jahren hat sie ihrem Staatsminister fünfzehn Kinder geboren (das sechzehnte ist adoptiert), ohne Fehlstart und ohne Abkürzung durch Zwillinge. Sie ist nett zu ihrem großen Bruder,