Der Zauberladen von Applecross (Bd. 1). Pierdomenico Baccalario
Nur dass sie uns nicht erklärten, was für Chancen das sein sollten.
Ich bin im Dorf Applecross aufgewachsen, das liegt ziemlich weit im Norden Schottlands. Ein schöner Ort, um groß zu werden. Dort gab es alles, was man brauchte, und, na ja, nichts, was einen ablenken konnte. Zwei Straßen, einen Platz mit einem winzigen Springbrunnen, der niemals funktioniert hatte, den Pub von Mr Fionnbhurd, einen kleinen Supermarkt, der von einer Genossenschaft geführt wurde, so was eben. Im Süden waren die Bauernhöfe, wo fast alle Schafe züchteten, genau wie mein Vater. Im Norden war bloß die Mühle. Dort wurde früher das Korn gemahlen, heute liegt sie praktisch brach. Nur die alte Cumai trieb sich dort herum. Auf dem höchsten Hügel in der Heide erhoben sich die Überreste eines verlassenen Herrenhauses, und die Cumai erzählte, dass dort an jedem Dreizehnten eines Monats Gespenster umgingen. Zur anderen Seite lag das Meer. Ein eiskaltes, immer trübes Meer. An stürmischen Tagen fegte der Wind den Himmel blitzblank und die Wolken sausten so schnell dahin wie Wolle beim Spinnen. Aber wenn der Wind sich legte und die Flut sich zurückzog, schwirrten Schwärme von Mücken über den von Muscheln und anderen kleinen Schätzen übersäten Strand. Ob ihr es nun glaubt oder nicht, mich haben diese Mücken nie gestochen, obwohl Dusty und ich jede freie Minute am Strand verbrachten auf der Suche nach kostbaren oder seltsamen Dingen, in der Hoffnung, vielleicht irgendwann sogar auf eine echte Flaschenpost zu stoßen. Aber wahrscheinlich, so dachte ich, gab es so etwas sowieso nur in Büchern und ich würde nie eine solche Botschaft finden. Ein einziges Mal hatte Dusty zumindest eine Flasche gefunden.
Dusty war mein Hund. Er hatte lange Ohren und ein struppiges Fell und reichte mir bis zum Knie. Die Flasche habe ich natürlich aufgehoben und in mein Zimmer zu den anderen merkwürdigen Gegenständen meiner Sammlung gestellt. Die bestand eigentlich bloß aus alten Dingen, seltsam geformten Metallteilen, Stöcken und Steinen. Auf jedes Stück klebte ich ein Etikett mit einem Namen, zum Beispiel: »Knochen eines Steganosaurus« oder »Getrocknete Blätter aus Doucumber«, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob es je einen Steganosaurus oder einen Ort namens Doucumber gegeben hat. Die Etiketten waren nur für Doug da, meinen Bruder, denn wenn der sie sah, war er zu beeindruckt, um Fragen zu stellen. Mein Bruder spielte Rugby, war der Schwarm aller Mädchen und außerdem strohdumm. Damals war er sechzehn Jahre alt und hatte die Schule abgebrochen. Das war das Einzige, wo wir mal einer Meinung waren. Ich riss mich nämlich auch nicht gerade darum, einen Schulabschluss zu machen.
Giftschlange.
So nannte mich mein Bruder.
Vielleicht weil ich mir als kleiner Junge oft einen Spaß daraus gemacht habe, mich ins Gras zu ducken und ihn dann hinterrücks anzufallen, oder weil ich so gern auf den Steinen in der Sonne saß. Ich mochte den Spitznamen überhaupt nicht, aber was konnte ich schon dagegen tun? Wenn man einmal einen Spitznamen weghat, dann bleibt der an einem hängen, ganz egal, was man anstellt. Außerdem stimmte es: Ich mochte Steine, besonders die in der Kurve von der Bealanch Ba – das sieht nach einem ziemlichen Zungenbrecher aus, aber es ist Gälisch und bedeutet »Ochsenweg«. So hieß die Küstenstraße. Dort gab es riesige Steine, also nicht ganz so groß wie Dolmen, die sind noch gewaltiger, aber fast. Man konnte hinaufklettern und sich dann im Schneidersitz draufhocken. Und wenn man dort oben saß, konnte man den Blick über die Inseln draußen auf dem Meer schweifen lassen. Mein Papa hatte mir beigebracht, dass man sie in einer bestimmten Reihenfolge anschauen musste, denn so hatte man es in Applecross immer schon gemacht. Zuerst waren die am weitesten entfernten Inseln im Norden dran, von wo die Wolken kamen. Dann musste man mit dem Blick langsam weiterwandern bis nach Skyle, zur größten Insel, die dunkel und tief im Schatten lag und um die bei jedem Sonnenuntergang die Blesshühner, Tölpel oder was auch immer kreisten.
Mein Vater hatte mir versprochen, wir würden im Oktober, an meinem vierzehnten Geburtstag, nach Skyle rüberfahren.
Ich war also noch dreizehn, als die Lilys ins Dorf kamen. Und mit meinem eintönigen Leben und allem, was ich euch bis jetzt erzählt habe, war es von da an vorbei.
ZWEITES KAPITEL
DIE ANGELRUTE
DIESER SELTSAME CITYFLITZER
71 TAGE
Der Bach, an dem ich immer angelte, hatte keinen Namen. Oder besser gesagt, er hatte keinen richtigen Namen wie die, die man auf Landkarten vermerkt. Die alte Cumai nannte ihn Calghorn dinn, was in der Sprache des Kleinen Volkes »stinkende Pfütze« bedeutete. Und das traf es so ziemlich. Sein Grund war mit abgerundeten Steinen und Kieseln übersät, und wo er seinen Lauf geändert hatte, waren Altarme mit stehendem Wasser entstanden, in die alles Mögliche hineinfiel und vor sich hin faulte. Aber wenn man ihn besser kannte, so wie ich, war der Calghorn dinn ein ziemlich toller Bach. Man musste nur über die ersten Pfützen springen, scharf nach Norden abbiegen und die Totenschädeleiche erreichen (ein furchterregender Baum, an dem zudem noch ein Schild mit der bedrohlichen Aufschrift hing: WEITERGEHEN VERBOTEN), an ihr vorüberlaufen, ohne dabei auf das Schild zu schauen, dem Weg nach links folgen und einige Schritte den Bach hinauf bis zu einer schmalen weißen Sandbank an einem kleinen See, der wie gemalt aussah. Dort konnte man die Fische mit bloßen Augen erkennen, so klar war das Wasser.
In meiner letzten Woche in Freiheit war es besonders heiß. Der Vormittag war schon vorüber und die Schule auch. Na ja, eigentlich stimmte das so nicht: Ich glaube, es war noch ein paar Tage hin bis zu den Ferien. Aber ich hatte beschlossen, dass sie zu Ende war … für mich jedenfalls. Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, so schöne Tage damit zu verplempern, in meiner Bank zu sitzen und Vokabeln zu pauken oder krampfhaft zu versuchen, mir zu merken, an welchem Tag Napoleon die Schlacht bei Waterloo verloren hatte. War das wirklich wichtig? Nicht für mich. Und für die Karpfen auch nicht.
Ich hatte die Angelrute meines Bruders im hohlen Stamm eines vom Blitz getroffenen Baums versteckt, zusammen mit den Ködern und Fliegen. Ich hatte mir beigebracht, wie man die selbst herstellen konnte, mithilfe eines Buches – des einzigen, das mir je bei etwas nützlich war, soweit ich mich erinnern kann. Wie man den perfekten Köder baut hatte es geheißen oder so ähnlich, genau weiß ich es nicht mehr, denn als ich alles gelesen hatte, was mich interessierte, habe ich es im Buchladen mit der Ausrede, ich hätte es doppelt, zurückgegeben. Und dafür habe ich dann ein anderes Buch mitgenommen, eins ganz in Rosa, als Geburtstagsgeschenk für meine Mutter.
Die Köder baute ich mir direkt am Fluss, während ich darauf wartete, dass ein Fisch anbiss. Ich hatte mein Werkzeug dabei: einen Hammer und einen flachen Stein, auf dem ich mir den Eisendraht zu Haken zurechtbog; eine Schere, um ihn anzuspitzen; ein paar Blätter Stanniolpapier und Federn, die ich mir von Mrs Bigelov, die im Hähnchengrill arbeitete, beiseitelegen ließ. Wenn ich Zeit hatte, so wie an jenem Tag, bemalte ich sie auch noch.
Die Fische bissen nicht an. Aber darum ging es mir nicht. Mir genügte es, dazusitzen und das schöne Wetter zu genießen. Flaumige Pappelsamen schwebten weich und weiß durch die Luft. Die Sonne schien warm. Kein Windhauch war zu spüren. Wäre ich bis zum Abend dort geblieben, hätte ich die Libellen sanft über der Oberfläche des kleinen Sees schwirren sehen können. Aber das ging natürlich nicht. Meine Eltern glaubten ja, ich wäre in der Schule, deshalb musste ich rechtzeitig auf den Hof zurückkehren, ganz so, als wäre ich mit den anderen nach dem Klingeln zum Unterrichtsschluss losgestürmt.
Ich schaute nach, wie spät es war, und da fiel mir wieder einmal auf, was für eine tolle Uhr ich hatte. Sie hatte ein Zifferblatt aus Elfenbein und vergoldete, spitz zulaufende Zeiger, die wie kleinen Lanzen aussahen. Die Zahlen waren erhaben, bis auf die Sieben, die irgendwann mal abgefallen war. Ich habe das nie für einen Zufall gehalten: ausgerechnet die Sieben, die Uhrzeit, die ich hasste, weil ich da immer morgens aufstehen musste.
Es war Viertel nach zwölf. Mir blieb also gerade genug Zeit, den Wald zu verlassen, mich an der Mühle vorbeizuschleichen, ohne dass die alte Cumai mich bemerkte, und kurz vor dem Klingeln im Dorf aufzutauchen.