Der Zauberladen von Applecross (Bd. 1). Pierdomenico Baccalario
»Aber … kann ich denn nicht bei euch auf dem Hof arbeiten?«, protestierte ich. »Gestern Abend hast du gesagt, dass … es nützlich wäre.«
Papa parkte den Lieferwagen vor der Kirche, stieg aus und forderte mich auf, ihm zu folgen. »Weil dir die Arbeit auf dem Hof einen Sommer lang Spaß machen könnte«, sagte er in diesem verbitterten Ton, der mir verdammt wehtat. »Deshalb habe ich den Reverend ausdrücklich um einen Job gebeten, der so richtig … unangenehm ist.«
Mit einem Bum! knallte er die Fahrertür zu.
»Dann wirst du es dir im nächsten Jahr zweimal überlegen, ehe du zum Angeln an den Fluss gehst.«
Reverend Prospero war eine Institution im Dorf. Er hatte sämtliche Kinder getauft, hatte denen, die es wünschten, die Beichte abgenommen, alle Ehewilligen verheiratet und all jenen die letzte Ölung erteilt, die sich wirklich auf den letzten Weg machen wollten. Er lebte mit Miss Finla in dem Pfarrhaus hinter der Kirche von Applecross. Miss Finla war seine Haushälterin und wahrscheinlich der einzige Mensch im Dorf, der älter war als er. Der Reverend war ein wahrer Riese, mit kräftigen Armen und einem Kreuz wie ein Rettungsschwimmer. Er war in mehreren Kriegen Seelsorger gewesen, in welchen, weiß ich nicht mehr, und ich konnte ihn mir nur zu gut vorstellen, wie er unter feindlichem Beschuss den Soldaten voranschritt und dazu auf seinem Dudelsack spielte. Er hatte einen riesigen Schnauzbart und die Haare kamen ihm sogar aus den Ohren heraus. Nur auf dem Kopf war er kahl.
Miss McCameron hatte mir einmal gesagt, dass Reverend Prospero eine geheimnisvolle Tätowierung auf der Schulter hätte und dass sie die entdeckt hatte, als sie Maß genommen hatte, um das Messgewand für ihn zu ändern. Aber ich hatte diese noch nie gesehen, und daher wusste ich nicht genau, ob es sie wirklich gab.
Der Reverend hatte eine sehr mächtige, befehlsgewohnte Stimme und eine ziemlich direkte Art: Um die Seelen seiner Schäfchen zu retten, peitschte er auf sie ein.
Mein Vater schubste mich in den Hof zwischen Pfarrhaus und Kirche und gleich darauf fiel der mächtige Schatten des Reverends über mich.
Ich musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass er mich aus seinen pechschwarzen Augen anstarrte.
»Nun denn, McPhee junior, was haben wir denn diesmal angestellt?«
Er sagte »diesmal«, weil ich ihm nicht zum ersten Mal vorgeführt wurde. Unsere erste Begegnung hatten wir vergangenes Jahr gehabt, als Jacky Turbine und Sammy Angler das Fenster von Mr Everett mit dem Fußball eingeschmissen hatten. Aber Mr Everetts Haus lag eben genau hinter dem Fußballplatz und Jacky Turbine hatte den härtesten Linksschuss der Highlands. Vielleicht hätten wir nach der ersten kaputten Scheibe aufhören sollen. Oder vielleicht hätten wir nicht unbedingt versuchen sollen, durch Mrs Gordons Gemüsegarten auf der anderen Seite des Fußballplatzes abzuhauen, als Mr Everett uns stockschwingend hinterherkam.
Damals hatte Reverend Prospero gemeint, das wäre ja wohl bloß ein Dummejungenstreich, aber er hatte uns gezwungen, uns einen Monat lang um Mrs Gordons Gemüsegarten zu kümmern, und Jacky Turbine hatte er dazu verdonnert, rund um alle Grabsteine auf dem Friedhof Unkraut zu jäten.
»Ich glaube, ich bin ein wenig zu oft angeln gegangen, Reverend«, erwiderte ich, um etwas zu sagen.
Er lachte dröhnend. »Statt zur Schule zu gehen? Haha! Und was sollen wir jetzt mit dir machen?«
»Das müssen Sie mir schon sagen, Reverend …«, nuschelte ich. Wenn ich etwas in der Hand gehabt hätte, hätte ich es zwischen meinen Fingern zerrieben. Mir wurde langsam heiß in meiner guten Jacke.
»Was kannst du denn?«, fragte er mich.
Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich konnte angeln. Dinge sammeln, die das Meer angeschwemmt hatte. Amerikanische Comics lesen. Mit Dusty durch den Winterwald laufen. Mit Dusty über Sommerwiesen laufen. Ich konnte mit Dusty bei jedem Wetter und egal zu welcher Jahreszeit umherlaufen. Und außerdem konnte ich verwunschene Orte erforschen, die Eingänge zum Reich des Kleinen Volkes erkennen und Landkarten zeichnen.
»Kannst du denn wirklich gar nichts?«, fragte der Reverend nach.
Na ja, sagte ich mir. Ich konnte die ganze Küstenlinie von hier bis zur Rattle Farm mit geschlossenen Augen beschreiben. Und ich wusste auch sonst noch eine ganze Menge nützlicher und weniger nützlicher Dinge. Ich wusste zum Beispiel, dass es zwischen dem Greelock-Pub und dem Gasthaus der Familie McStay einen Geheimgang gab, und ich wusste auch, wie man dort hineinkam. Ich wusste, dass Mr Everett ab und zu heimlich hinter seinem Andenkenladen rauchte. Und dass der einzige Funker des Dorfes, Seamus, einen Apparat erfunden hatte, mit dem er die Satellitenkanäle gucken konnte, ohne dafür zu bezahlen. Und ich wusste …
Mein Vater versetzte mir von hinten einen kleinen Schubs, der mich fast aus dem Gleichgewicht brachte. »Denk dir was aus, Prospero«, sagte er einfach. »Ich muss zurück auf den Hof.«
Dann wechselten die beiden Männer einen Blick, der eine vorher getroffene Abmachung zu besiegeln schien. Ich stellte mir vor, wie die beiden am Telefon miteinander gesprochen hatten, während ich in meinem Zimmer eingesperrt war, so wie Männer das eben tun, mit nur ein paar knappen Sätzen.
»Komm mit«, befahl mir Reverend Prospero und ging voran.
Eins muss ich zu Reverend Prosperos Verteidigung sagen. Er hat an jenem ersten Tag zumindest versucht, Applecross zu retten. Aber anscheinend konnten weder er noch ich verhindern, was unausweichlich geschehen sollte.
Weil ich keine vierzehn war, konnte ich nicht richtig arbeiten. Das wäre illegal gewesen. Es gab nämlich ein Gesetz gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft von Minderjährigen. Oder so ähnlich. Aber das hielt den Reverend eines kleinen frommen Ortes wie Applecross nicht davon ab, mich zu verpflichten, hier und da Leuten »zur Hand zu gehen«, und zwar vollkommen umsonst. Denn ich war ja ein guter Junge, der gern half.
Das war das schottische Hausmittel gegen Faulheit.
Am ersten Tag ging ich der landwirtschaftlichen Genossenschaft »zur Hand«. Sie schickten mich ins Lager, wo ich die Kisten von den Lieferwagen abladen und in die Regale einräumen sollte. Anfangs machte mir das sogar Spaß, aber später nicht mehr: Alles, was kam (und es war jede Menge Zeug, das zu den unterschiedlichsten Zeiten angeliefert wurde), musste in einer bestimmten Ordnung eingeräumt werden. Dahinter steckte eine Logik, die sich mir allerdings nicht erschloss. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie viele Produkte im Lager eines kleinen Supermarktes Platz finden konnten und wie viele Menschen dort jeden Tag hinkamen, um nach den ausgefallensten Dingen zu fragen.
Bereits nach der Hälfte des Vormittags spürte ich meine Schultern nicht mehr.
Mr Cullen, mit dem ich noch kein Wort gewechselt hatte, zeigte auf einen kleinen Hocker neben der Kasse. »Ich gehe mal kurz zur Bank. Wenn jemand kommt, dann sagst du, ich bin gleich zurück.«
Sobald er weg war, nahm ich mir ein Wassereis aus der Kühltruhe und lutschte es hastig, damit er es nicht mitbekam.
In dem Moment betrat ein Mann den Laden, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Er sah aus wie ein Rockstar. Er war riesengroß, spindeldürr, hatte einen blonden Wuschelkopf und wirkte so verwirrt, als hätte er eben entdeckt, dass die Mondlandung nie stattgefunden hatte.
Der Mann sah sich um, wie um zu begreifen, wohin es ihn verschlagen hatte, und fragte mich: »Gibt es hier Pizza?«
Ich zeigte ihm das Kühlregal mit den Steinofenpizzas, auf denen der Mozzarella so schön Fäden zieht, und er musterte sie etwas misstrauisch. Schließlich nahm er zwei.
Dann kramte er in seinen Taschen und rief: »Verdammt! Entschuldige. Ich bin neu hier. Ich habe … ich habe mein Portemonnaie zu Hause vergessen. Kann ich später noch mal wiederkommen und sie bezahlen?«
Ich sah zur Bank hinüber, aber von Mr Cullen keine Spur. Ich musste also schnell eine Entscheidung treffen. »Okay«, sagte ich zu dem Unbekannten. »Aber Sie kommen ganz bestimmt wieder, oder?«
»Sicher komme ich wieder«, erwiderte er. »Und danke. Ich bin … wirklich …«