Dan Henry allein im fremden Land. Stig Ericson

Dan Henry allein im fremden Land - Stig Ericson


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Das kleine grüne Buch war natürlich ein Lexikon. Der Schal rutschte nach hinten, so daß ich ihr Gesicht erkennen konnte.

      Ich wurde bitter enttäuscht.

      Mit dem Rücken zur Wand saß ich da und lauschte dem Hämmern der Maschinen und dem Brausen des Meeres. Ich dämmerte vor mich hin und begann von Anna, Dunkelheit und Bettwärme zu träumen.

      »Aha. Hier steckst du also.«

      Vor mir stand Max. In seiner dunkelblauen Uniform sah er sehr männlich aus. Er strahlte Leben und Kraft aus, und obwohl ich natürlich froh darüber war, daß er da stand und sein frisches Lächeln lächelte, so beneidete ich ihn doch.

      Sicher hatte er schon viele Mädchen gehabt. Er brauchte nicht zu träumen, er brauchte sich nur zu erinnern.

      »Ich muß Englisch lernen«, sagte ich, »wie soll ich sonst zurechtkommen, wenn ich in Hull bin? Ich muß ja versuchen, nach Liverpool zu kommen und dort auf irgendeinem Schiff anzuheuern, und da muß ich ...«

      Ich hatte so lange geschwiegen, jetzt strömten die Worte nur so aus mir heraus.

      »So weit sind wir noch nicht«, sagte Max, »jetzt werde ich dir erst mal zeigen, wo du schlafen kannst, und dann mußt du dich darum kümmern, daß du etwas zu essen bekommst. Auf dieser Reise ist überall reichlich Platz, und während du hier an Bord bist, brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

      »Aber das Englisch. Die englische Sprache!«

      »Komm jetzt und mach dir darüber keine Gedanken.«

      Ich nahm die Tasche und folgte ihm.

      Ein paar Stunden später lag ich im hinteren Passagierraum unter Deck. Es roch nach Karbolsäure und alten Decken, auf jeder Seite des Raumes liefen lange Schlafbänke an den Wänden entlang, und auf der linken unteren Bank lag ich. Die Bank war so nieder, daß ich den Boden mit der Hand berühren konnte.

      Die Bodenplanken waren warm. Irgendwo darunter befanden sich die Maschinen. Die Wand neben mir fühlte sich feucht und kalt an. Dahinter war das Meer.

      Ich hatte von meinem Proviant gegessen, war satt und schläfrig und spürte die Kälte des Meeres durch das Eisen. Der Gedanke daran, daß einzig und allein diese Eisenwand das Meer daran hinderte, hereinzudringen, flößte mir Angst ein, und ich war froh darüber, daß ich nicht allein sein mußte, wie in der Abstellkammer.

      Ungefähr zwanzig oder dreißig Menschen befanden sich hier unten, die meisten lagen auf ihren Schlafplätzen. Sie hatten ihre Taschen und Körbe und Bündel und Töpfe und Blechschüsseln so nahe wie möglich um ihre Plätze aufgebaut, ein Mann schlief sitzend — mit dem Rücken gegen eine Holzkiste.

      Auf der gegenüberliegenden Bank saß ein Betrunkener und redete mit sich selbst. Ab und zu grinste er vor sich hin. In dem schwachen Licht, das durch die Ventilatoren hereindrang, konnte ich sein Gesicht schlecht erkennen, ich sah nur, daß er kleine Augen und eine ziemlich lange, gerade Nase hatte.

      »Soll ich spielen?« fragte er undeutlich. Er zeigte auf eine Ziehharmonika, die er auf den Knien hielt, und begann eine Menge zusammenhangloser Töne und Akkorde herauszuquetschen. Ab und zu stampfte er mit einer Stiefelsohle einen verworrenen Takt dazu.

      Ich lag auf dem Rücken und lauschte den kläglichen Tönen und sehnte mich danach, richtige Musik spielen zu dürfen.

      Noch vor einem Monat war ich Daniel Henrik Gustafsson gewesen, Klarinettist im Musikkorps der Ersten Leibgarde. An manchen Abenden spielten wir im Restaurant Hasselbacken in Stockholm und erhielten nach jeder Nummer Beifall, und nach den Konzerten wurden wir im Café zum Punsch eingeladen, weil wir so gut spielten.

      Jetzt hieß ich Dan Henry — dieser Name klang besser auf Englisch, hatte Max gesagt, und da ich sowieso keine Papiere besaß ...

      Wenn ich dort sterben sollte, würde mich niemand vermissen.

      Ich tat mir selbst sehr leid, die Ziehharmonika jammerte hilflos durch das Halbdunkel und irgend jemand sagte:

      »Hör mit dem Lärm auf! Wie soll man da Ruhe zum Schlafen finden!«

      Es wurde still. Der Mann mit der Ziehharmonika rülpste und legte sich auf den Rücken.

      Irgendwo unterhielten sich ein paar mit gedämpften Stimmen, sicher darüber, wie es in Nordamerika werden würde!

      Ich überließ mich bohrenden, einsamen Gedanken, während der Dampfer Orlando weiter durch die Nordsee pflügte.

      2

      Die Reise nach Hull dauerte etwas mehr als zwei Tage und Nächte, und ich habe nicht mehr allzuviel von dieser Reise in Erinnerung.

      Obwohl es September war, blieb das Meer ruhig, und ich stand meistens an der Reling und sah auf das Wasser hinaus. Die übrige Zeit lag ich unten auf meiner Schlafbank und grübelte. Ich aß, wenn die anderen aßen, und sprach mit niemand. Außer mit Max. Aber der war eine sehr wichtige Persönlichkeit an Bord und war immer irgendwohin unterwegs, wenn ich ihn etwas fragen wollte. Meistens fertigte er mich sehr kurz ab, und ich begann mir einzubilden, daß er es bereute, mich mitgenommen zu haben.

      Besonders brennend interessierte mich natürlich die Frage, wie ich es anstellen sollte, in Hull an Land zu kommen.

      »Mach einfach ein vergnügtes Gesicht und geh an Land«, sagte er einmal auf meine Frage hin, »meistens machen sie sich gar nicht die Mühe, irgendwelche Papiere anzusehen. Das einzige, wonach sie suchen, ist Tabak. Hull, das ist eine Stadt für sich. Keine Sorge, wird schon alles schiefgehen!«

      Aber manchmal fand ich, daß er selbst auch besorgt aussah, wenn er mich ansah. Ich bildete mir ein, daß ich ihm zur Last fiel, daß ich unangenehme Erinnerungen in ihm wachrief, und ich nahm mir fest vor, nicht länger an ihm zu hängen, sobald wir in England wären. Irgendwie würde ich schon zurechtkommen.

      Ich wollte von niemand abhängig sein.

      Der letzte Reisetag war ein Sonntag. Es war grau und neblig, und am Nachmittag stand ich wie gewöhnlich, den Ellenbogen auf die Reling gestützt, und starrte auf das Wasser hinaus. Die Möwen flogen kreischend um das Schiff. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein.

      Allmählich strömten immer mehr Leute hinauf auf Deck. Die meisten schwiegen, aber als vorne ein dünner grauer Landstreifen auftauchte, entstand Stimmengewirr. Der Nebel lichtete sich, und der Streifen wuchs, und als die Wolken plötzlich auseinanderglitten und oben leuchtend weiße Ränder bekamen, sagte jemand neben mir, das sei ein gutes Zeichen. Das Meer war ganz hellblau geworden. Ein hagerer Mann mit einer Schildmütze stellte sich jetzt vorne an den Bug und sagte, daß wir uns Spurn Head näherten und daß wir gegen Abend in Hull am Kai festmachen würden; aber das sei kein Grund zur Eile, meinte er; alle könnten noch in aller Ruhe die Nacht an Bord verbringen, zur Weiterfahrt nach Liverpool gehe es erst am nächsten Morgen los. Viele kamen zu ihm her und erkundigten sich, ob es denn verboten sei, an Land zu gehen. Dazu meinte er, wenn keine Amtsperson in Hull sie daran hindere, könnten sie, so viele es wollten, von ihm aus an Land gehen, allerdings würden der Kapitän und die Reederei dann keine Verantwortung mehr für die Betreffenden übernehmen.

      »Ihr kommt jetzt in ein fremdes Land, liebe Leute«, sagte er, »vergeßt das nicht. Ein fremdes Land mit anderer Sprache und anderem Geld. Dort gelten weder Kronen noch Dollar.«

      Die Worte des Mannes beunruhigten mich. Da vorne lag England. Jetzt konnte ich nicht mehr träumen. Jetzt mußte ich mich bewähren ...

      Der Mann mit der Ziehharmonika stand auch auf Deck, und jemand bat ihn, sein Instrument zu holen. Zuerst sträubte er sich, doch als die anderen es ihm heraufbrachten, setzte er sich auf eine Kiste und tastete auf den Knöpfen herum. Jetzt baten ihn viele zu spielen.

      »Etwas zum Mitsingen ...«

      Er preßte den Mund zusammen und begann einen Walzer zu spielen. Jetzt, in nüchternem Zustand, spielte er recht gut, und die Leute begannen mitzusingen. Mehr und mehr sangen mit. Der Gesang veränderte die Gesichter. Sie wurden offener. Man sah einander an und lächelte. Aber nicht alle sangen. Viele standen allein, wie


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