Dan Henry allein im fremden Land. Stig Ericson

Dan Henry allein im fremden Land - Stig Ericson


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      Wir fuhren an einer sandigen Insel mit niedrigen Häusern vorbei. Das Wasser nahm allmählich eine eigenartige braune Färbung an, und wir begegneten Schiffen und kleinen Dampfern mit Schaufelrädern an den Seiten und dünnen schwarzen Schornsteinen, die aus dem Schiffsrumpf herausragten, Barken mit schmutzigen Segeln, Schleppern und Lastschiffen. Ab und zu winkten ein paar Matrosen zu uns herüber, das Wasser glitzerte, die Möwen kreischten, und die Luft war voller neuer Geräusche und Gerüche.

      Mir gefielen sie gar nicht.

      Jetzt tauchte zu beiden Seiten des Schiffes Land auf. Wir waren in eine große Bucht oder in eine Flußmündung eingelaufen. Hinter bläulichem Dunst ließen sich die Umrisse von Masten, Schornsteinen und Häusern erahnen. Allmählich wurde es dunkel, die Luft fühlte sich rauh und kalt an. Diese Dunkelheit kam mir irgendwie bedrohlich vor, denn sie kam nicht durch Wolken oder Nebel, sondern durch Kohlenrauch, der immer dichter wurde, je mehr wir uns dem Land näherten. Das Wasser hatte inzwischen eine hellbraune Färbung angenommen, wie Kaffee mit viel Sahne darin.

      Der Gesang war jetzt verstummt. Ein paar kleine Kinder jagten einander, sonst herrschte überall Stille an Bord. Die meisten standen an der Reling und blickten zum Ufer hinüber, zum neuen Land.

      »Fester Boden unter den Füßen wird guttun ...«

      »Doch, doch ...«

      »Ist ja noch ziemlich weit, bis wir am Ziel sind.«

      »Ja ...«

      Im Bug standen ein paar Männer in blauer Arbeitskleidung und ordneten Seile und Taue, und ich überlegte, was Max wohl machte. Und was ich tun sollte ...

      An den Kais lagen Hunderte von Schiffen, beinahe alle klein und schmutzig und häßlich, und hinter dem Wald aus Masten und Schornsteinrohren konnte man Schuppen und Lagerbauten erkennen. Ich weiß noch, daß ich mich über die Piere wunderte, lange Stege, die von den Kais hinausführten und auf hohen Pfählen standen, Pfählen, die von getrocknetem Seegras ganz hellgrün waren. Damals wußte ich noch nicht, daß diese Piere wegen der Gezeiten so gebaut waren.

      Die Orlando glitt langsam an den anderen Schiffen vorbei und steuerte schließlich in ein langes Becken hinein. Die Einfahrt war sehr eng, und jemand neben mir meinte lachend, in solchem Fahrwasser müsse schon der Teufel selber Steuermann sein.

      Ich sah Schienen, Eisenbahnwaggons, Schuppen und Kräne, ich sah Tiere und Menschen, schlechtgekleidete Männer, die Säcke und Fässer rollten, Männer, die herumstanden und rauchten, zwei Frauen, die sich über ein großes Faß beugten ...

      Alles, was ich sah, wirkte schmutzig und hoffnungslos. Und das war England.

      In meiner Phantasie hatte England ganz andere Farben gehabt. Schon der Name klang so reich und groß und spannend. So etwas ist schwer zu erklären, und ich kann auch nicht genau sagen, wie ich mir England eigentlich vorgestellt hatte. Auf jeden Fall nicht so.

      Obwohl ich erst fünfzehn war, hatte ich ja schon einiges hinter mir. Ich war von älteren Kameraden im Regiment unbarmherzig gequält worden, ich hatte meinen Vater, bevor er starb, im Gefängnis gesehen, ich war in einer dunklen Augustnacht aus Stockholm geflohen, ich war Zeuge eines gräßlichen Raubmords hinter Malmköping gewesen — aber kaum eines dieser Erlebnisse hatte mich so entsetzt wie der Anblick von Hull an jenem Nachmittag.

      Ich bekam ein saugendes Gefühl in der Brust und sehnte mich so schrecklich zurück nach Schweden, daß ich am liebsten zusammengesunken wäre und geweint hätte.

      Jemand packte mich an der Schulter. Es war Max.

      »Komm mit«, sagte er. Ich verließ die Reling und folgte ihm. »Wie steht’s?« fragte er.

      »Gut.«

      »So hast du dir’s wohl nicht vorgestellt, was?«

      »Nein ...«

      »Hafenviertel sind überall trist. Du hast doch hoffentlich nicht vor, dich an Land zu begeben oder so?«

      Ich ahnte, daß er Spaß machte, aber die Vorstellung, daß er mich vielleicht los sein wollte, hatte sich festgebissen, und daher antwortete ich nicht. Er lächelte und boxte mich leicht auf die Brust.

      »Kopf hoch«, sagte er. »Was bist du denn für ein Kerl?« Ich sagte nichts.

      »Reiß dich jetzt nur noch ein paar Stunden zusammen, dann sprechen wir über alles weitere«, sagte er. »Ein paar von den Bauern hier werden gleich an Land stürzen, kaum daß wir angelegt haben, aber du bleibst an Bord, bis ich dir Bescheid sage!«

      Er sah zu den Männern hinüber, die im Bug arbeiteten, plötzlich fluchte er und machte ein paar rasche Schritte auf sie zu.

      »Ich suche dich nachher auf«, sagte er über die Schulter. »Geh runter, wenn du frierst.«

      Damit verschwand er nach vorne.

      Bald darauf lag die Orlando am Kai vertäut. Auf Deck herrschte großes Gedränge, und die Besatzung mußte sich mit den Ellenbogen einen Weg bahnen, um die Luken für die Landungsstege öffnen zu können.

      »Immer mit der Ruhe, Leute«, sagte einer der Matrosen. »Der Zug fährt erst morgen ab, und diese Stadt hier ist wirklich nicht besonders empfehlenswert.«

      Dennoch gingen viele gleich an Land — beinahe nur Männer —, und niemand schien sich für irgendwelche Papiere zu interessieren. Neben den Landungsstegen standen ein paar Zollbeamte in dunklen Uniformen und platten Schildmützen und musterten die Ankömmlinge zerstreut, das war alles.

      Doch obwohl keine Kontrolle war, kam mir nicht einmal der Gedanke, an Land zu gehen und zu versuchen, ohne Max’ Hilfe alleine weiterzukommen. Er hatte mich angelächelt und mich auf die Brust geboxt — das hatte vieles verändert.

      Und dann waren da auch die Menschen am Kai. Sie flößten mir Furcht ein. Vor allem die Jungen — schmutzige, barfüßige Jungen mit flinken Bewegungen und harten Gesichtern. Aus irgendeinem Grund verglich ich mich mit ihnen. Der Unterschied zwischen uns war nicht allzu groß. Ich war nur etwas älter und hatte bessere Kleider an. Aber dafür waren sie hier zu Hause. Und sie beherrschten die Sprache!

      »Warum verschwinden sie nicht von hier und fahren auch nach Amerika«, dachte ich.

      Es wurde immer dunkler. Der Dunst verdichtete sich um die vereinzelten Laternen herum zu Kugeln, und ich überlegte, ob in England wohl auch Löwenzahn wuchs.

      Ich ging hinunter zu meiner Schlafbank. Dort lag ich und fühlte mich schmutzig und klebrig und dachte an Löwenzahn und grünes Gras — und daran, wie es war, als Vater und Mutter noch lebten.

      Warum gingen nicht alle zerlumpten Gestalten und barfüßigen Jungen hier im Hafen fort nach Amerika? War es denn so schwierig, dorthin zu kommen?

      Jemand begann einen Psalm zu singen. Es war Sonntag. »Niemand gelangt zur ewigen Ruh’ ...«

      Gedämpft drangen die Stimmen durch den scharfen Karbolsäuregeruch. Ich lag auf dem Rücken mit gefalteten Händen und wünschte, daß sie noch lange singen möchten — da hörte ich rasche Schritte. Max stand da und beugte sich leicht über mich.

      »Wie steht’s?« sagte er auf seine übliche Art.

      »Gut«, sagte ich.

      Das stimmte, denn in diesem Augenblick fühlte ich mich geborgen.

      Psalmen und Löwenzahnträume.

      Dann sagte ich, daß ich mich schmutzig fühlte und gerne eine Seife leihen wollte.

      »Du kannst dich noch früh genug waschen«, sagte er.

      »Sieh zu, daß du alle deine Sachen beieinander hast, und komm jetzt. Ich habe gerade frei, wir könnten jetzt an Land gehen.«

      3

      Meine Tasche war längst gepackt. Ich mußte nur aufstehen und gehen.

      Max sagte, es sei vielleicht am besten, wenn ich ein Stück vor ihm herginge, damit niemand auf komische Gedanken käme. »Übrigens


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