Träume und Träumen. Michael Ermann
Kulturen haben über Jahrhunderte hinweg Traditionen in der Traumdeutung entwickelt. Wir kennen solche Traditionen in Persien, in China und im Zwei-Flüsse-Land des alten Arabien. Berühmt sind die biblischen Träume, die weitreichende Deutungen erfahren haben, beispielsweise der Josef-Traum des Alten Testaments. Auch unsere abendländische Kultur hat ein traditionsreiches Interesse an Träumen. Vor allem die mitteleuropäische Romantik widmete Träumen eine besondere Aufmerksamkeit. Was aber all diesen Traumlehren vor Freud gemeinsam ist, ist ihr überindividueller Ansatz. Sie alle betrachten Träume als Ausdruck transzendenter, schicksalhafter oder mystischer Kräfte, die den Menschen zum Sprachrohr jenseitiger oder überzeitlicher Botschaften machen, und interessieren sich nicht für individuelle Motive. Sie alle »deuten« Träume gleichsam ohne den Träumer.
Erst mit Freud veränderte sich die Vorstellung, dass sich in Träumen irrationale, überirdische Botschaften Ausdruck verschaffen. Er war der Erste, der dieser Sichtweise eine wissenschaftlich fundierte Traumdeutung entgegensetzte, indem er die Entstehung, die Funktion und die Bedeutung von Träumen auf eine theoretische Grundlage stellte. Darin liegt die wegweisende Bedeutung seiner Traumlehre für die Wissenschaft vom Traum.
Doch die Bedeutung der Traumdeutung als Markstein der Kulturentwicklung geht weit darüber hinaus. Mit Freuds Annäherung an Träume und an das Träumen sind nämlich weitreichende Entdeckungen verbunden, die ein fundamental neues Verständnis des Menschen im 20. Jahrhundert eröffnet haben. Indem er das Individuum, d. h. den einzelnen Träumer, in das Zentrum seiner Überlegungen stellte, rückte er nicht nur vom mystisch-transzendentalen Ansatz früherer Traumlehren ab. Dieser auf das Individuum zentrierte Ansatz eröffnete ihm grundsätzliche Einsichten in die Struktur und Dynamik der Psyche und führte dazu, dass seine Traumtheorie zur Grundlage einer neuen Theorie des Seelenlebens wurde, die sich mit den Prozessen des individuellen Seelenlebens befasst – der Psychoanalyse.
Die Grundlage dafür bildet eine besondere Technik der Traumdeutung, in der die Einfälle des Träumers zu einzelnen Traummotiven, die »Assoziationen«, wie Freud es nennt, zum Ausgangspunkt der Deutung werden. Der Träumer ist für die Deutung seiner Träume also mindestens genauso wichtig wie der Traumdeuter. Statt Träume gewissermaßen von außen her »objektiv« zu deuten, etwa auf der Basis einer überindividuellen Symbolik, nähert Freud sich ihrer Bedeutung über die Einfälle des Träumers gleichsam von innen an.
Zugleich widmet er sich den einzelnen Details, die in den komplexen Traumbildern und -geschichten enthalten sind, und ihrer höchstpersönlichen, aus dem Alltag und der Lebensgeschichte des Träumers entlehnten Bedeutung. Diese Detaildeutung ist ein weiteres Charakteristikum seiner Deutungstechnik und unterscheidet sie von der bis dahin vorherrschenden Globaldeutung – dem Deuten »en masse«, wie er es nennt.
Mit der Traumdeutung gelang Freud der endgültige große Durchbruch zur Psychoanalyse. Darin liegt ihre größte Bedeutung. Freud selbst bezeichnete sie später in seinem »Abriss der Psychoanalyse«4 als den Eckpfeiler der jungen Wissenschaft.
Es besteht kein Zweifel, dass es bereits vor 1900 in Freuds Schriften bedeutende Bausteine zur Psychoanalyse gab. Insbesondere die »Studien zur Hysterie«5 sind ein wegweisender Beitrag in ihrer Entwicklung. Doch die Traumdeutung enthält im berühmten siebenten Kapitel die erste umfassende Ausarbeitung, in der Freud eine komplexe, in sich schlüssige Lehre von den Funktionen des Unbewussten vorlegte, mit denen er die Psychoanalyse als Wissenschaft etablierte.
Im literarischen und wissenschaftlichen Werk von Freud ist die Traumdeutung ein Monolith. Für ihn war sie in sich abgeschlossen. Anders als in der unermüdlichen Fortentwicklung seiner anderen Ideen, nahm er später an ihr keine substanziellen Veränderungen mehr vor.6 Er begann zwar mehr als 30 Jahre später seine »Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse«7 mit einem Kapitel, das er »Revision der Traumdeutung« überschrieb. Es handelte sich dabei aber nicht um eine eigentliche Revision, d. h. um maßgebliche Veränderungen der ursprünglichen Konzepte auf der Grundlage neuerer Erkenntnisse und Ideen, sondern vielmehr um ein Plädoyer für eine hinreichende Berücksichtigung von Träumen in der psychoanalytischen Behandlung, die in der Zwischenzeit unter seinen Mitarbeitern und Schülern mit der Entwicklung der Ich-Psychologie deutlich an Bedeutung verloren hatte.
Biographischer Hintergrund
Wissenschaftliche Errungenschaften und Vermächtnisse sind – wie die meisten schöpferischen Leistungen der Menschheit – nicht nur auf dem Hintergrund des Zeitgeistes zu sehen, sondern auch vor dem Hintergrund der persönlichen Biographie ihrer Schöpfer. Vergegenwärtigen wir uns deshalb zunächst Freuds Lebenssituation zu der Zeit, in der er seine Traumdeutung schrieb (
Tab. 1: Lebensdaten von Sigmund Freud bis zum Erscheinen der Traumdeutung
Sigmund Freud (1856–1939) hatte sich als Mediziner zunächst der Neurophysiologie zugewandt und war 1885 Privatdozent der Neuropathologie an der Wiener Universität geworden, wo er ursprünglich eine akademische Laufbahn anstrebte. Während eines viermonatigen Stipendiats an der Salpétiêre, dem Armenkrankenhaus in Paris, lernte er bei Jean Martin Charcot (1825–1893), der die Abgrenzung zwischen epileptischen und hysterischen Anfällen entdeckt und begonnen hatte, Hysterikerinnen in Hypnose zu behandeln. Charcot gilt als bedeutender Neurologe des 19. Jahrhunderts. Er vertrat als Erster die Auffassung, dass Neurosen durch unbewusste »fixe Ideen« hervorgerufen werden können.
Diese Idee entwickelte Freud weiter, nachdem er nach seiner Rückkehr – vor allem aus wirtschaftlichen Gründen – eine Privatpraxis in Wien eröffnete. Anfangs behandelte er neurotische Patientinnen und Patienten mit Elektrotherapie und Hypnose. Später entwickelte er die Methode der freien Assoziation, die ihn zu der Auffassung gelangen ließ, dass verdrängte sexuelle Motive eine bedeutende Ursache der Hysterie darstellen.
Es gab zwei Freundschaften, die in dieser Zeit sehr wichtig für ihn waren. Die eine war die Freundschaft zu Joseph Breuer (1842–1925), der deutlich älter und beruflich erfahrener war als er und den man als seinen Mentor bezeichnen kann. Breuers Hauptinteresse galt der Physiologie und der Frage, welchen Zweck biologische Vorgänge haben. Damit wandte er sich gegen das einseitig mechanistische Denken der Medizin der damaligen Zeit. Auf diese Weise erkannte er in der Behandlung der »Anna O.«, dass hysterische Symptome durch Kränkungen motiviert sein und durch »kathartische« Abreaktion der aufgestauten Gefühle günstig beeinflusst werden können.
Von Breuer erhielt Freud entscheidende Anregungen für die Behandlung seiner hysterischen Patientinnen. Einige behandelten sie sogar gemeinsam. Ihre Erfahrungen legten sie 1895 in dem gemeinsamen Buch »Studien über Hysterie« nieder. Es beschreibt die Verdrängung traumatischer Erfahrungen als Grundlage für die Entstehung hysterischer Krankheitssymptome und markiert als wichtigstes Buch vor der Traumdeutung den Beginn der Psychoanalyse. Doch die Freundschaft ging bald darauf auseinander, weil Breuer sich der Radikalität und Ausschließlichkeit nicht anzuschließen vermochte, die Freuds damals der Sexualität für die Entstehung seelischer Krankheiten zuerkannte – eine Auffassung, mit der er 1896 bei seinem Vortrag vor dem Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie heftige Ablehnung hervorgerufen hatte.8
Die andere Freundschaft war die sehr enge, man möchte sagen liebevolle Beziehung zu Wilhelm Fließ (1858–1928), der über lange Zeit Freuds persönlicher und wissenschaftlicher