Träume und Träumen. Michael Ermann
die neueste Zeit zu den verschiedensten Mutmaßungen und Kommentaren inspiriert.
Freud selbst gelangte bei seiner Selbstdeutung zu dem Ergebnis, dass dieser Traum den Sinn hatte, ihn von der Verantwortung für das schlechte Befinden seiner Patientin Irma zu entlassen. Er schrieb: »Der Traum erfüllt einige Wünsche, welche durch die Ereignisse des letzten Abends in mir rege gemacht worden sind. Das Ergebnis des Traums ist nämlich, dass ich nicht schuld bin an dem noch vorhandenen Leiden Irmas und dass Otto daran Schuld ist. Nun hat mich Otto durch seine Bemerkung über Irmas unvollkommene Heilung geärgert, der Traum rächt mich an ihm, indem er den Vorwurf auf ihn selbst zurückwendet. Von der Verantwortung für Irmas Befinden spricht der Traum mich frei, indem er dasselbe auf andere Momente zurückführt.«17
Wenn ich in meinen Kommentaren auf andere Aspekte, nämlich auf die Problematik um Nähe und Distanz und auf das Berührungstabu in der Beziehung zu Patientinnen eingehe, dann schwebt mir vor, dass diese Aspekte in der Geschichte der Psychoanalyse später noch eine bedeutende Rolle spielen sollten. Insofern handelt es sich um einen wirklichen Initialtraum der Psychoanalyse, in dem sich bereits eine zentrale Thematik der nachfolgenden Entwicklung konstelliert hat.
Diese Thematik sollte nämlich die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Behandlungsmethode maßgeblich beeinflussen. Sie bewirkte z. B. die Einführung des sog. Abstinenzprinzips. Freud selbst scheint ihr in der ihm eigenen Abgeklärtheit begegnet zu sein. Bei anderen hat sie trotz der Einführung des Abstinenzprinzips immer wieder zu Verfehlungen, Zerwürfnissen und tragischen Entwicklungen Anlass gegeben. C.G. Jungs Begegnung mit Sabina Spielrein und Sandor Ferenczis mutuelle Analyse mit »R. N.« sind dafür bewegende Beispiele.
Abb. 4: Sigmund Freud im Kreise seiner Familie zur Zeit der Arbeit an der Traumdeutung um 1898 (© akg-images).
Der Irma-Traum fiel in Freuds persönlicher Entwicklung in eine Zeit der untergründigen Enttäuschtheit. Die akademische Laufbahn hatte er zu Gunsten der Familiengründung aufgegeben, aber der erhoffte finanzielle Erfolg hatte sich in der Praxis nicht eingestellt. Aus seinem weiteren Lebensverlauf wissen wir, wie viel ihm Anerkennung, Geltung und Erfolg bedeuteten. Umso mehr muss er darunter gelitten haben, dass er in der Phase der Anfänge der Psychoanalyse aufgrund seiner Ansichten – er äußerte sich in dieser Zeit bereits öffentlich zur sexuellen Ätiologie der Hysterie – in der wissenschaftlichen Welt in einem Abseits befand.
Dabei begleiteten ihn sicher auch eigene Zweifel, wie die Anspielung auf die Organmedizin und auf die mangelhafte Wirksamkeit der Methode zeigen. Man kann sich sogar fragen, ob darin nicht gar ein Zweifel an der Nützlichkeit der ganzen Psychoanalyse zum Ausdruck kam, der schließlich in das erwähnte Schlussmotiv mündete: »Wahrscheinlich war die Spritze auch nicht rein.«
Aber es sind vermutlich nicht nur Ängste und Zweifel an der Nützlichkeit und Wirksamkeit der Psychoanalyse, die in diesem Traum zum Ausdruck kamen, sowie Ängste vor persönlicher Diskreditierung im gesellschaftlichen Umfeld und in der wissenschaftlichen Welt. Wenn Freud diesen Traum in das Zentrum seiner Traumdeutung stellt, dann auch deshalb, weil er ganz im Sinne des Mottos seines Buches damit den Acharon überschreitet, den Fluss an der Grenze zur Unterwelt. Er lässt seine Leser an den Ängsten teilhaben, die wachgerufen werden, wenn man sich mit den Kräften des Unbewussten verbündet.
2 Vgl. »Das Verdrängte und das Bewusste« in der 2. Vorlesung.
3 Freud S (1900): Die Traumdeutung. GW Bd. 2/3.
4 Freud S (1938): Abriss der Psychoanalyse. GW Bd. 17.
5 Freud S (1895): Studien über Hysterie. GW Bd. 1.
6 Die Traumdeutung erschien zu Lebzeiten von Freud bis 1930 auf Deutsch in 8 Auflagen, die nur geringfügige Veränderungen und Ergänzungen gegenüber der Erstausgabe enthielten.
7 Freud S (1933): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW Bd. 15.
8 Freud S (1896): Zur Ätiologie der Hysterie. GW Bd. 1.
9 Freud S (1959): Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ. Abhandlungen und Notizen 1887–1902. Imago, London. (Nachdruck: Fischer, Frankfurt a. M. 1962).
10 Am 24. Juli 1895 gelang Freud während eines Aufenthaltes in Schloss Bellevue bei Wien die nach seiner Auffassung erste vollständige Analyse eines Traums, nämlich die des Traums von »Irmas Injektion«.
11 Balint M (1949): Wandlungen der therapeutischen Ziele und Techniken in der Psychoanalyse. In: Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Klett, Stuttgart 1966.
12 Diese Formulierung spielt auf einen Satz von Victor von Weizsäcker an, der seine psychosomatisch-anthropologischen Studien mit dem Anspruch verband, »das Subjekt wieder in die Medizin einzuführen«. Einen ähnlichen Paradigmenwechsel gab es fünf Jahrzehnte später, als sich innerhalb der Psychoanalyse und anderer Humanwissenschaften der methodische Schwerpunkt von der Betrachtung der Psyche als Objekt des Forschers hin zur gemeinsamen Beziehung und geteilten Erfahrung weiterentwickelte (vgl. Balint o. a. a.).
13 Freud S (1900) S. 111.
14 »Weigern’s die droben, so werde ich des Abgrunds Kräfte bewegen.« (Übersetzung von R. A. Schröder).
15 Ich werde in der 2. Vorlesung auf dieses Motto noch einmal zurückkommen.
16 Mertens hat alle 24 Arbeiten darüber zusammengestellt: Mertens W (1999): Traum und Traumdeutung. Beck, München, S. 133.
17 Freud S (1900) S. 123.
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