FM4 Wortlaut 20. Kontakt. Elisabeth Etz

FM4 Wortlaut 20. Kontakt - Elisabeth Etz


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bei der Jurysitzung konnten sich nicht alle treffen. Reisewarnungen führten dazu, dass ein Teil in Wien saß, und der Kontakt zu Anna Weidenholzer in der Schweiz und Lukas Gmeiner in Berlin nur digital war. Technisch die bisher komplizierteste Wortlautjurysitzung, war das Dank einer äußerst unkomplizierten Jury dennoch machbar. Umso mehr musste konzentriert und geordnet zugehört und diskutiert werden.

      Ganz klar einig war sich die Jury beim Gewinnertext Hinter dem Mond. Überzeugt hatte sie „die gute Mischung aus Schwere und Leichtigkeit“, die Art, „wie große existentielle Themen aufgerollt werden“, die Schreibweise, „ohne dass ein Wort zu viel verloren wird“, „die kluge Traumsequenz“, „das sprachliche Können“, das „Motiv des Astronauten“, und die Metapher von Hinter dem Mond, denn „das ist die dunkle Seite des Mondes, die immer da ist und die wir nicht sehen.“

      Inhaltlich könnten die hier vorliegenden zehn Kurzgeschichten nicht unterschiedlicher sein: von einer Katzenallergie zu einem Rehkitz auf einem Trampolin, vom demenzkranken Vater zu der neuen Freundin mit Kind, zu einer Kassette mit Opas Stimme zu einem Mann, der sich mehr und mehr zurückzieht, von einer Therapiestunde zu einem blutigen Wochenende, von einer Schwangerschaft zu einem schwulen Frisör.

      Was alle diese Texte eint: sie berühren.

      Und das macht ja eine gute Kurzgeschichte aus.

      Easy.

       Claudia Czesch und Zita Bereuter

       Am Anfang war ein Lampenschirm

      Vor siebzehn Jahren saß ich an einem Herbstabend mit Freundinnen im Gasthaus Vorstadt, alle lebten wir erst seit kurzem in Wien. In meiner Erinnerung lag ein riesiger Raum vor uns, mindestens so groß wie die Welser Messehalle, zig Reihen an Stühlen, die Ausstellungsstücke jene zehn Menschen, die einzeln nach vorn gebeten wurden. Auch mein Name wurde aufgerufen. Ich stand auf, aufgeregt und stolz, und stieß mit voller Wucht gegen den Lampenschirm über mir.

      Das war mein erster Auftritt als Autorin, auch wenn ich mich damals noch nicht so bezeichnet hätte. 2003 erreichte ich beim FM4 Wortlaut den neunten Platz, Vorletzte, aber das war egal, genau wie der siebzig Euro lion.cc Gutschein, den ich bekam, ich kann mich heute nicht einmal erinnern, was lion.cc überhaupt verkaufte. Aber dieser neunte Platz bedeutete mir damals, frisch nach der Schule, die Welt.

      Was macht jemanden zur Autorin? Lesen und schreiben, klar. Aber auch das Hinaustrauen, der erste Zuspruch, der vielleicht irgendwann zu einer Veröffentlichung führt. Sich den Kopf stoßen, auf Zusagen hoffen und Absagen erhalten gehört ebenfalls dazu. Jurys sind im Leben einer Autorin ein seltsames Gebilde, das im Hintergrund Weichen stellt. Auf irgendeine Entscheidung wartet man immer, oft monatelang, und immer wieder tun sich neue Schranken und Übergänge auf.

      Und dann kommt der Punkt, an dem die Autorin selbst in einer Jury sitzt und für das Vorwort der Anthologie etwas schreiben soll. Es ist uns nicht, tippe ich zuallererst und lösche diesen Satzbeginn sofort, weil zu erwartbar ist, was darauffolgt.

      Aber anders lässt es sich nicht sagen. Es ist uns, der Jury, nicht leichtgefallen. Das hatte erwartungsgemäß mit literarischen Kriterien zu tun, aber auch mit den Eigenheiten dieses Jahres, kurzfristig erlassenen Reisebeschränkungen und Quarantänepflichten, technischen Schwierigkeiten. Ich bin mir sicher, keine Wortlaut-Jury vor uns hat so viel Zeit damit verbracht, eine Möglichkeit zu finden, einander zu hören.

      Wir haben lange diskutiert und wieder von vorn begonnen, waren uns bei manchen Texten überraschend einig und bei anderen nicht. Lesen trägt immer auch den Versuch mit sich, zu verstehen, was einen ergreift und warum. Manchmal verliert man sich voll und ganz in einer Geschichte, manchmal ist es die Sprache oder Form, die einen einnimmt. Bei einer Jurysitzung wird diese Leseerfahrung noch weitergedreht, die Jurorin oder der Juror soll nicht nur verstehen, sondern auch erklären und werten. In der Literatur eine Reihung wie beim Skifahren zu vergeben, kann für alle Beteiligten grausam sein, formale gegen inhaltliche Kriterien abzuwägen, alles zusammen ein Ding der Unmöglichkeit.

      Es liegt also in der Natur der Sache, dass uns die Entscheidung schwergefallen ist. Aber ich denke, unsere liebsten Zehn, die in diesem Buch versammelt sind, zeigen sehr gut, was uns fünf wild zusammengewürfelte Leserinnen und Leser auf eine bestimmte Weise ergriffen und begeistert hat.

      Das Hören gelang uns nach den Anfangsschwierigkeiten einwandfrei, dass wir einander dabei auch alle sehen, gaben wir an irgendeinem Punkt auf. Nach unserer Jurysitzung, Stunden zwischen Wien, Berlin und Winterthur, schmerzten meine Ohren von den Kopfhörern. Ich klappte den Laptop zu und griff nach einem Buch, das auf meinem Schreibtisch lag. Alles muss seinen Himmel haben von Joseph Joubert, ein Autor, der sein Leben lang nur Notizen verfasste und den ich jeder und jedem ans Herz legen möchte. Planlos schlug ich das Buch auf und landete bei einem Eintrag aus dem Jahr 1816: Die Verrückten und selbst die zornigen Verrückten urteilen sehr gut.

      In diesem Sinne, frohes Lesen.

       Anna Weidenholzer

      * 1984 in Linz, lebt in Wien. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien und Polen. Ist die beste Wortlaut-Wiederholungsschreiberin: 2003, 2008 und 2009 war sie unter den besten zehn Texten. Danach hat sie erfolgreich Bücher geschrieben: Der Sammelband Der Platz des Hundes (2010) sowie die Romane Der Winter tut den Fischen gut (2012), Weshalb die Herren Seesterne tragen (2016) oder Finde einem Schwan ein Boot (2019). Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien. Anna Weidenholzer wurde mehrfach ausgezeichnet oder auch nominiert – etwa für den Leipziger Buchpreis (2013) oder Longlist für den Deutschen Buchpreis (2016).

      Im September 2020 ist sie auf Einladung des Verbands Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS) in der Villa Sträuli in Winterthur zu Gast.

       Hinter dem Mond

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       Foto: Miriam Kreiseder

      Matthias Gruber

      hat Theaterwissenschaft studiert, als man in der Uni noch rauchen durfte und macht seitdem immer irgendwas mit Medien. Vieles hat er dann auch wieder gelassen, aber das Schreiben ist ihm geblieben. Aktuell verbringt er seine Nachmittage auf Kinderspielplätzen und seine Abende mit der Arbeit am ersten Roman.

      Ich stehe in der Küche und lege Münzen auf die Tischplatte. Zweihundert Ein-Euro-Stücke und eine rote aus Plastik mit dem Logo einer Supermarktkette. Als ich fertig bin, rufe ich nach Emma.

      „Ich hätte gedacht, dass das mehr sind”, sagt sie beim Eintreten und nimmt einen Schluck aus ihrer Teetasse.

      „Trotzdem unrealistisch, dass du die rote erwischt, wenn du einfach so hingreifst”, sage ich.

      „Und die willst du jetzt so dem Arzt geben oder was?”

      „Dann fahren wir eben vorher noch mal bei der Bank vorbei.”

      Ich beginne, die Münzen zurück in den Stoffbeutel zu schieben, in dem normalerweise die Scrabble-Buchstaben liegen.

      „Willst du ziehen?”, sage ich und schüttle. Im Beutel beginnt es zu klimpern.

      „Lass das. Das bringt Unglück.”

      Emma liegt mit ausgestreckten Beinen auf dem Behandlungstisch und hat das T-Shirt über den Bauch hochgerollt. Ich sitze daneben und drücke ihre Hand. Sie drückt zurück, aber nicht ganz so fest. Das Ultraschallgerät zerlegt Emmas Gebärmutter in schwarze und weiße Punkte und setzt sie am Monitor wieder zusammen.

      „Ich seh da nichts”, sagt sie und lässt ihren Kopf nach hinten sinken.

      Doktor Gruber dreht an einem der Knöpfe und wir hören den Herzschlag. Es klingt, als ließe jemand eine Springschnur über dem Kopf kreisen. Ich drücke Emmas Hand fester. Doktor Gruber dreht sich auf seinem Hocker nach einem Papierhandtuch


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