Nächsten Sommer. Hanne-Vibeke Holst
Erstes Kapitel
»Ach, Louise, darf ich dir eine Rose in die Haare stecken?«
»Eine Rose? Du spinnst! Natürlich nicht.«
»Eine gelbe. Du würdest aussehen wie eine Prinzessin.«
Stine griff mit einer Hand in Louises lange blonde Haare.
»Stine, wir haben keine Zeit. In einer halben Stunde kommen sie angetobt und du sitzt hier rum und faselst von Rosen.« Louise knetete genervt das Hackfleisch. »Und du musst doch langsam kapiert haben, dass Rosen in den Haaren und Ringe in der Nase nichts für uns hier oben in Jütland sind, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen«, fügte sie hinzu und gab Salz und Pfeffer in die Schüssel.
»Wenn man sich so aufführen müsste, wie das hier üblich ist, würde man vor Langeweile bald krepieren«, sagte Stine und kippte lässig ein halbes Glas Thymian dazu.
»Das soll wohl nach irgendwas schmecken, ja?«, meinte Louise trocken und versuchte den Gewürzberg mit einem Teelöffel zu entfernen.
Stine seufzte resigniert.
»Dann lass mich wenigstens deine Nägel schwarz lackieren.«
»Nix«, sagte Louise abweisend. »Und wie wär’s, wenn du mir kurz mal hilfst diese Frikadellen zu braten? Es ist immerhin dein Fest. Wo habt ihr eine große Pfanne?«
»Keine Ahnung. Schau doch mal im Fach unter dem Herd nach.«
Stine schüttelte eine Flasche Nagellack, die sie aus dem Kühlschrank geholt hatte. »Nur die Zehennägel. Das sieht ja doch keiner«, schmeichelte sie.
»Quälgeist! Aber es muss ganz schnell gehen, sonst schaffen wir das nie.« Louise ging in die Hocke und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als sie eine große, schwarze schmiedeeiserne Pfanne aus dem Schrank zerrte.
»Habt ihr hier eine Volksküche gehabt?«, fragte sie und knallte die Pfanne auf den Herd.
»Ne, die hat meine Mutter irgendwann mal gekauft, als sie in eine Wohngemeinschaft ziehen wollte. Jetzt komm her und setz dich, Baby.«
Louise stieg resignierend aus ihren Sandalen und setzte sich an den großen Kiefernholztisch, der von Salatköpfen, Tomaten, zwei Schüsseln Kartoffelsalat unter Plastikfolie und zwei älteren Zeitungen geradezu überquoll.
Stine schob ihren Stuhl ganz dicht an sie heran und nahm Louises Füße auf ihre Knie.
»Du hast so elegante Füße. Du solltest zum Ballett gehen.« Stine beugte sich über Louises Füße und achtete sorgfältig darauf, dass sich der schwarze Lack gleichmäßig auf den kleinen Nägeln verteilte und nicht an den Zehen kleben blieb.
»Jaja. Und Einrad fahren und Feuer fressen. Du hast immer so viele gute Ideen.« Louise lächelte und steckte sich eine Zigarette an.
»Ach, ist das vielleicht nicht lustiger als deine Jazzgymnastik für Fortgeschrittene und Porzellanmalerei an der Volkshochschule? Kann ich mal ziehen?« Stine blickte von Louises linkem Fuß auf und öffnete den Mund, damit Louise ihr die Zigarette zwischen ihre knallroten Lippen stecken konnte.
Louise erwiderte das Lächeln, während sie Stine betrachtete, die sich wieder mit zusammengekniffenen Augen ganz darauf konzentrierte, ihre Nägel zu lackieren.
Manchmal überlegte sie sich, wie öde alles gewesen war, ehe Stine vor zwei Jahren an einem Augustmorgen in die Stadt gekommen war. Dieses todtraurige Erdloch, in dem Louise ihr ganzes Leben verbracht hatte, bekam plötzlich einen Hauch von großstädtischer Schrillheit. Es konnte sogar witzig sein, in die Schule zu gehen.
Stine kam aus Kopenhagen und war nur unter Protest mit ihren Eltern hergezogen. Ihre Mutter war Keramikerin und ihr Vater unterrichtete am Lehrerseminar und plötzlich waren sie auf die Idee verfallen, zu ihren Wurzeln zurückzukehren oder so ähnlich.
Louise vergaß nie, wie sie Stine zum ersten Mal gesehen hatte. Am allerersten Schultag in der ersten Gymnasiumsklassea, wo alle mit frisch gewaschenen Haaren und sauberen Fingernägeln dasaßen, völlig verwirrt registrierten, dass sie jetzt aufs Gymnasium gingen, und niemand etwas zu sagen wagte aus Angst sich zu blamieren, kam Stine eine Viertelstunde zu spät.
»Hallo, ich heiße Stine. Ist das hier, wo die 1 g sich anöden soll?«, fragte sie frech, als sie den Kopf zur Tür hereinsteckte.
»Wenn du das so formulieren möchtest, dann ja«, hatte der Lehrer geantwortet. »Ansonsten kommst du eine Viertelstunde zu spät.«
»Ach? Das mach ich immer«, hatte Stine mit flachem Kopenhagener Akzent erwidert und der Name des Lehrers, der in Blockschrift an der Tafel stand, wäre fast herabgerieselt.
Alle starrten diesen exotischen Vogel, der sich in einem Schwarm von grauen Spatzen niedergelassen hatte, mit offenem Mund an.
Stines Haare waren leuchtend hennarot gefärbt, ihr ärmelloses T-Shirt war neongrün, ihr Tüllrock schenkelkurz und ihre spitzen Stilettopumps aus imitiertem Schlangenleder. Aber das Faszinierendste war die herzförmige Sonnenbrille, die sie nicht abnahm.
Louise war genauso gelähmt wie der Rest der Klasse, aber sie musste sich trotzdem auf die Lippen beißen, um nicht laut loszuprusten. Stine war die witzigste Frau, die sie je gesehen hatte. Und als Stine sich ohne zu zögern neben Louise setzte, stand einfach fest, dass sie Freundinnen werden würden.
»Jetzt hast du wirklich verdammt fetzige Zehen.« Stine betrachtete ihr Werk voller Bewunderung, nachdem sie die Zehen zweimal mit Lack überzogen hatte.
»Und was soll ich damit anfangen?«, fragte Louise und öffnete eine Flasche Wein. »Du weißt doch genau, dass in der Klasse nichts Lohnendes sitzt. Carsten ist entweder blau oder bekifft und außerdem traut er sich nicht mit Frauen über zwölf zusammen zu sein. Und Hans ist noch nicht in die Pubertät gekommen und interessiert sich ohnehin nur für Tut.«
»Du hast wohl Anders vergessen.« Stine streckte ihren linken kleinen Finger aus, der auch eine Lackschicht bekommen hatte.
»Anders! Hast du den eingeladen? Der kommt doch sonst nie?«, fragte Louise überrascht.
»Dann wird’s aber höchste Zeit, dass er mal ins Warme kommt. Wir brauchen frisches Blut hier in der 3 g, wir haben doch den ganzen Markt schon durchgekämmt. Außerdem ist er absolut nicht so prüde, wie wir uns einbilden. In diesem Sommer haben sich seine Augen irgendwie verändert. Es sind so richtige Schlafzimmeraugen geworden«, sagte Stine und hob mit viel sagendem Gesicht ihr Glas.
»Meinst du, er war mit der Kuhmagd im Heu?«, kicherte Louise.
»Mmm. Der Knabe hat jedenfalls verborgene Talente . . .«
Stine hatte offenbar vor, sich genauer mit ihrer Theorie zu befassen. Jedenfalls sorgte sie dafür, dass sie beim Essen neben Anders sitzen konnte. Je mehr sie trank, desto schamloser flirtete sie.
Sie zog sämtliche Register und ließ Kopenhagener Sprüche los, lehnte sich an ihn und legte sogar kokett eine Hand auf seinen Arm.
Anders ließ sich alles gefallen, nickte und sagte an den richtigen Stellen ja und nein und schob sich ansonsten eine Portion Frikadellen mit Kartoffelsalat nach der anderen ein. Er wirkte weder besonders verlegen noch besonders interessiert.
Louise saß den beiden gegenüber und amüsierte sich, während sie Stines Charme-offensive beobachtete. Sie musterte Anders eingehend und fragte sich, ob Stine Recht haben könnte. Vielleicht hatte er sich verändert? Sah er nicht irgendwie männlicher aus? Mit breiten Schultern, richtigen Pranken und einem markanteren Gesicht?
Oder vielleicht sah er ja auch schon länger so aus? Plötzlich ging Louise auf, dass er ihr vorher noch nie besonders aufgefallen war. Er gehörte zu diesen stillen Typen vom Land, die jeden Tag früh mit dem Bus kamen und gleich nach Schulschluss nach Hause fuhren. In den zwei Jahren, die sie zusammen in die Klasse gingen, war Anders nie auf ein Bier mit ins Café gekommen oder abends mit ins Kino gegangen.
Er schien ganz nett zu sein, das war es nicht. Er sah nur so aus, als ob er am liebsten seine Ruhe hätte. Und er musste wohl auch zu Hause seinem Vater auf