Nächsten Sommer. Hanne-Vibeke Holst
Anders musste das gehört haben, aber er ließ sich nichts anmerken und aß weiter.
»Prost!«, sagte Louise und bemerkte zu ihrem großen Ärger, dass sie rot wurde, als Anders sein Glas hob und ihr zuprostete. Sonst wurde sie nie rot. Sie wurde mit jeder Situation fertig und war einfach cool. Dafür war sie bekannt und deshalb war sie auch im letzten Jahr zur Schulsprecherin gewählt worden. Sie konnte einfach so ein Podium betreten und fünfhundert Menschen erzählen, wie die Weltsituation heute aussah und dass sie am nächsten Tag gegen Einsparungen im Bildungsbereich demonstrieren sollten.
In den ersten beiden Gymnasiumsklassen hatte sie sich in allen Fragen des Schülerrates sehr engagiert und sich total für die Politik interessiert. Jeden Nachmittag studierte sie die Zeitungen und lernte eine Menge Fremdwörter, die sie bei den Beratungen des Schülerrates und im Sozialkundeunterricht abfeuern konnte. Alle, außer Stine, waren zutiefst beeindruckt von ihr. Stine konnte nicht begreifen, dass Louise ihre Zeit mit solchem Unfug vergeudete.
Und jetzt tat sie das auch nicht mehr. Die endlosen Verhandlungen mit dem Rektor über die Farbe des Toilettenpapiers, über die Mensapreise und über den Zeitpunkt, an dem die Schulfeste aufhören mussten, ödeten sie an. Im Grunde durfte sie ja doch keinen Pups selber bestimmen.
Nein, in der 3 g wollte sie sich auf die Schule konzentrieren und einen guten Notendurchschnitt erzielen, um sich nicht mit irgendeiner zweit- oder drittklassigen Ausbildung begnügen zu müssen. Vielleicht würde sie auch Zeit finden, mehr zu zeichnen und mit Stine zu quatschen.
Dass sie sich etwas zurückhielt, konnte vielleicht auch ihr Image verbessern. Die anderen hielten sie ja für einen kalten Fisch, sie trauten sich kaum mit ihr zu reden.
Sie war aber kein kalter Fisch. Wenn sie selber Zweifel hatte, fragte sie Stine und die bezeichnete sie immer als Powerfrau. Stine hatte selbst teuflisch viel Power, vielleicht waren sie deshalb so gute Freundinnen.
»Louise, möchtest du eine rauchen?« Stine schob eine schwarze Zigarettenpackung zu ihr hinüber. Louise lächelte und nahm sich einen der schwarzen Glimmstängel mit dem Goldmundstück. Stine hatte also wirklich etwas vor. Die Marke ›Sobranie‹ kaufte sie nur zu bestimmten Gelegenheiten, wenn sie irgendeinem Typen imponieren und als Dame von Welt auftreten wollte.
Während Louise rauchte und wie üblich versuchte Ringe zu blasen, saß sie still da und betrachtete die anderen am Tisch. Sie hatten fertig gegessen und die Teller weggeschoben, sie rauchten und tranken und redeten alle durcheinander. Alle Feste waren gleich, immer lief dasselbe Spiel ab. Hans begrapschte wie immer Tuts Oberschenkel und sie entfernte wie üblich seine dünne, sommersprossige Hand von ihren Jeans.
Tut war die Puppe der ganzen Schule. Eine süße, kleine Maus mit weichen Locken und großen braunen Augen mit dichten, langen Wimpern. Louise war immer noch ganz hingerissen, wenn sie sah, wie diese Wimpern sich öffneten und schlossen. Hans war in sie verliebt, seit sie aufs Gymnasium gekommen waren, und ebenso lange hatte Tut ihn abgewiesen. Sie wollte nur große, starke Männer, die sie beschützen konnten, wie ihre Brüder das immer gemacht hatten. Bis auf weiteres wartete sie darauf, dass der Prinz auf seinem Schimmel am Horizont auftauchte. Louise und Stine machten sich ziemliche Sorgen, wer wohl kommen und diese kleine Kirsche pflücken würde.
»Kannst du dir sparen, Hans, ich hab dir doch gesagt, dass das alles nichts bringt«, sagte Carsten und öffnete mit dem Gabelstiel sein fünftes Bier. Das Bier schäumte über und spritzte auf den Teller, auf dem Carsten vorher schon seine Asche über den Kartoffelsalatresten abgeschlagen hatte.
»Schwein!«, rief Lene und warf ihm einen ihrer mörderischen Blicke zu, die exklusiv für ihn reserviert waren. Die beiden konnten sich einfach nicht ausstehen. Lene wohnte mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder zusammen und fühlte sich von der Gesellschaft überaus ungerecht behandelt. Carsten war der Sohn eines Oberarztes und wurde pausenlos von vorn bis hinten von seiner frustrierten Mutter bedient. Sie stritten sich immer wieder, wer von ihnen am übelsten dran war.
Auch Louise hatte sich schon hundertundsiebzehnmal mit ihm gestritten. Er konnte so provozierend sein, dass sie vor Wut losheulte. Einmal auf einem Fest hatte er im Suff behauptet, in sie verliebt zu sein. Seither benahm er sich ihr gegenüber nur noch übler, während sie versöhnlich geworden war, weil es ihm so schlecht ging. Er war so selbstzerstörerisch, schwänzte die Schule und trank und rauchte ununterbrochen. Während er mit seiner Igelfrisur dasaß und negative Wellen durch den ganzen Raum sendete, konnte sie trotz ihrer Gereiztheit Mitleid mit ihm haben. Er war tierisch begabt und hatte so viele Chancen, aber jetzt zerstörte er langsam alles.
Im Vergleich zu Carsten war Anders die reinste Milchreklame. Kerngesund. Und dänisch.
Er sammelte jetzt die Teller ein und auf dem Weg zur Küche flatterte Stine um ihn herum. Louise stand auf, um Maja und Anne beim Spülen zu helfen. Aus irgendeinem Grund blieb diese Arbeit immer an den beiden hängen. Sie waren zwei etwas zurückhaltende Mädchen, die Louise lange für strohlangweilige Hausmütterchen gehalten hatte. Aber sie waren wirklich witzig, wenn sie erst wagten sich ein bisschen gehen zu lassen.
Stine war blau. Knatschbesoffen. Später, als sie zu den uralten Jazz- und Rockplatten von Stines Vater tanzten, kam sie zu Louise, die am Regal stand, herübergetorkelt.
»Kannst du mir nicht helfen?«, fragte sie und legte Louise die Arme um den Hals.
»Wobei?«, fragte Louise und stützte sie.
»Bei ihm! Ich komm bei ihm einfach nicht weiter. Alles, was ich gelernt habe, kann ich mir sonst wohin stecken. Aber ich weiß, ich weiß, er ist der reinste Vulkan!« Stine blickte sie aus verhangenen Augen an.
Louise drückte sie liebevoll an sich und lehnte sie gegen das Lexikon der dänischen Sprache in achtundzwanzig Bänden.
»Ach, Louise, was soll ich mit Männern, wenn ich dich habe!«, sagte Stine, glitt langsam am Regal hinab und ging mit einem Plumpsen zu Boden.
Tut setzte sich neben sie und Louise ging zur Toilette. Sie bürstete sich die Haare und klaute einen Tropfen vom Parfüm von Stines Mutter. Sie wollte mit Anders tanzen. Er war der Einzige, mit dem sie überhaupt tanzen wollte.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, saß er zwischen Maja und Anne auf dem Sofa und lachte und quatschte. Sie kannten sich schon lange, waren zusammen zur Grundschule gegangen und schienen sich köstlich zu amüsieren.
Louise nahm einen tiefen Schluck Wein und wollte zu ihm hinübergehen. Aber plötzlich schien die Entfernung zwischen ihnen größer und größer zu werden. Es war einfach unmöglich, das Sofa zu erreichen. Was sollte sie ihm sagen? Und warum wollte sie unbedingt mit ihm tanzen?
Stattdessen tanzte sie mit Hans und Lene, behielt Anders aber die ganze Zeit im Auge. Sie konnte ihn ja immerhin nach der Ernte fragen. Sie trank etwas mehr, ihr wurde schwindlig und sie sank in einen tiefen Ledersessel. Mit geschlossenen Augen nahm sie sich vor einfach zu ihm zu gehen und zu fragen: »Na, was macht die Ernte? Willst du tanzen?« – Nein, dann würde er sie ja für restlos verblödet halten.
»Wollen wir tanzen?« Louise fuhr zusammen, als Anders plötzlich vor ihr stand.
»Was macht die Ernte?«, fragte Louise und glotzte ihn blöd an.
»Die Ernte?« Er sah überrascht aus. »Die läuft sehr gut. Interessierst du dich für Landwirtschaft?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln.
»Na ja, nicht besonders«, murmelte sie. »Ach, ich hab sicher einen Schwips«, fügte sie hinzu und nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte.
Ehrlich gesagt, war sie ganz schön beschwipst, das merkte sie, als sie tanzten und ihre komplizierten Schritte sich verhedderten. Sie und Stine hatten sich nämlich einige Serien ausgedacht, mit der sie samstagabends in der Disko auf der Tanzfläche die Schau abrissen. Sie endeten immer mit einem heißen, nassen Kuss, der sämtliche Zuschauer verärgern konnte. Stine liebte Provokationen.
Louise gab die wilden Schritte auf und lehnte sich stattdessen an Anders. Er war warm und roch gut. Frisch gewaschen und frisch gebügelt. Sein Körper war muskulös und knochig, es war schön, seine Hände auf den