Die Insel der Einsamen. Paul Keller
sie ist über viertausend Schritte lang und an den breitesten Stellen an die zweitausend Schritte breit. Sie hat viele Berge, Wälder, Felder, Gänse-, Kuh- und Schafherden, Ziegen, Hasen und Hühner.“
„Wieviel Menschen wohnen darauf?“
„Achtzehn — ohne die Weiber.“
„Wieso ohne die Weiber? Zählen die Weiber nicht mit?“
„Nein, denn alles Unheil kommt vom Weibe.“
„Das habt Ihr wohl auch wieder von dem Dichter?“
„Ich habe es von ihm; aber ich weiss es auch von selbst.“
„Habt Ihr eine Frau?“
Kajetan zog mit der Hand eine Linie durch die Luft.
„Gehabt! — Futsch!“
„Gestorben?“
„Nein, ausgerückt!“
Der Fremde sah Kajetan mitleidig an. Der hatte die Stirn in finstere Falten gelegt.
„Mit ihrem Vater ist sie ausgerückt,“ knirschte er. „Er hat sie wieder nach Hause geholt, als ich sie kaum zwei Jahre lang hatte. Er sagte, sie müsse bei mir zu viel arbeiten!“
Der andere lächelte abermals.
„Das ist Pech. Und so seid Ihr also ein Pessimist geworden?“
„Jawohl, da bin ich ein Pessimist geworden und habe mir einen Knecht halten müssen, den ich nicht nötig hatte, als die Frau noch da war.“
„Wie lange lebt denn der Graf schon auf der Insel?“
„An die acht Jahre. Seine Tochter ist jetzt achtzehn.“
„Eine Tochter hat er auch?“
„Sie heisst Klotildis.“
„Ist sie schön?“
„Nein, keine Frau ist schön. Der Dichter sagt, die Schönheit der Weiber ist Schwindel. Und Klotildis braucht auch nicht schön zu sein, denn es gibt niemand etwas darauf. Der Dichter sagt, sie ist ätherisch, das soll heissen, sie ist sehr mager.“
Kajetan schloss die Augen. Von dem vielen Reden schien er müde geworden zu sein, und namentlich das Thema über die Weiber hatte ihn sehr gelangweilt. Nach einer halben Minute schon begann seine Nase die Einleitungstakte zu einer grossen Symphonie. Darauf wollte sich nun der andere nicht einlassen; er rüttelte also Kajetan und sagte:
„Schlaft nicht, lieber Meister, sondern erzählt mir lieber noch ein wenig von der Insel.“
Kajetan gab verdrossen zur Antwort:
„Ich kann mich nicht zu Tode reden. Ihr habt mir das Neueste von der Welt erzählt, und ich habe Euch von der Insel erzählt, also sind wir quitt. Jetzt will ich schlafen; denn ich bin müde und habe ausserdem heute den Namenstag.“
„Der Tausend!“ rief der andere, „den Namenstag habt Ihr? Das trifft sich gut. Da sollten wir ein Fest feiern.“
Er bastelte an seinem Reisegepäck herum und reichte Kajetan eine kleine Flasche hin.
„Da, nehmt das zum Angebinde! Lasst es Euch gut bekommen: es ist edler Burgunder.“
Kajetan war mit einem Male wieder munter. Er bedankte sich und sagte dann:
„Ich habe es bald gemerkt, dass Ihr ein Mann von Bildung seid, hätte es aber gern, wenn Ihr mir Euren Stand und Namen nennen wolltet. Ihr wisst, wer ich bin, und ich weiss nicht, wer Ihr seid, und also steht die Wage schief.“
Der Fremdling erhob sich sogleich, machte eine zierliche Verneigung und hub an:
„Gestattet demnach, edler Meister Kajetan, grosser Admiral dieser Inselflotte, dass ich mich vorstelle: Ich heisse Günther, Freier von Echtelfingen, bin der vierte Sohn meines Herrn Papa und meiner Frau Mama, stamme aus der Gegend zwischen Köln, Rom, Konstantinopel und Danzig und habe mein Leben lang nichts getan als Allotria, indem ich nämlich Jurisprudentia studierte, mit welch lächerlichem Zeitvertreib ich eben fertig geworden bin. Darauf bin ich in die Welt gezogen, um nach Herzenslust zu wandern, und habe vorläufig keinen anderen Plan, als hinüber ins Klösterliche zu fahren, wenn sich dazu durch die Rückkehr Eures Knechtes eine Gelegenheit bieten wird.“
Kajetan hatte aus dem ganzen Wortschwall nur das eine behalten, dass sein Gast und Nachbar ein Edelmann sei; er sprang also mit einer für ihn ganz unpassenden Geschwindigkeit empor, zog seine Zipfelmütze ab, so dass sein dicker, struppiger, schon etwas angegrauter Schädel in Erscheinung trat, stammelte eine Entschuldigung und erbot sich, Herrn Günther augenblicklich selber hinüber ins Klösterliche zu rudern.
Doch Günther nahm ihm die Mütze, zog sie ihm eigenhändig wieder über die Ohren, gab ihm einen sanften Stoss, der Kajetan einlud, wieder im Grase Platz zu nehmen, und sagte:
„Machen wir nur keine Faxen, lieber Freund; ich bin froh, dass ich bei Euch bin, und habe es gar nicht so eilig, fortzukommen. Ruht Euch erst ein wenig aus, sammelt Euern Geist und erzählt mir dann noch etwas von dieser geheimnisvollen Insel, um derentwillen ich in diese sehr entfernte Gegend gekommen bin.“
„Wisst Ihr schon etwas von der Blutkapelle?“ fragte Kajetan leise.
„Ja, davon hörte ich in den Herbergen weiter den Strom hinauf. Und ich hörte auch, Graf Raimund, der nun diese Insel besitzt, sei der Sohn jenes Mannes, der seine Frau an der Schwelle des Heiligtums erschlug.“
Kajetan wälzte sich mit einem Ruck nahe an Günther heran und hielt ihm seine mächtige Pranke auf den Mund.
„Pst! Um Gottes Willen — das darf niemand sagen. Das ist bei schwerster Strafe verboten. Wenn Ihr darauf zu sprechen kommen wollt, so mache ich nicht mit.“
Der Fischer flüsterte es und machte ängstliche Augen.
„Vom Herrn Grafen soll niemand sprechen, auch nicht von dem, wie er lebt und was er tut.“
„Und was tut er?“ fragte der andere unbekümmert.
„Das sage ich nicht,“ erwiderte Kajetan. „Nehmt Euren Wein zurück und lasst mich in Ruh.“
„Oho, Meisterchen, jetzt werdet Ihr unfreundlich. Wenn Ihr mir also nichts vom Grafen erzählen wollt, so erzählt mir wenigstens von den anderen Leuten, die auf der Insel wohnen.“
Aber Kajetan war misstrauisch geworden. Er berief sich darauf, dass er der Vertrauensmann des Grafen sei und dafür zu sorgen habe, dass das Leben auf der Insel ein tiefes Geheimnis bleibe.
„So — so,“ sagte der andere und sonst kein Wort mehr. Nach einer Weile hörte Kajetan neben sich ein leises Klingen. Er wandte den Kopf und sah zu seinem gewaltigen Erstaunen, dass der andere eine ganze Anzahl goldener Dukaten auf das grüne Gras gezählt hatte.
„Was macht Ihr?“ fragte er beinahe atemlos.
„Ich zähle mein Geld,“ sagte der andere lässig; „es muss noch auf einen Monat ausreichen.“
„So reich seid Ihr?“
Günther antwortete nicht. Er raffte das Gold zusammen und füllte es in einen ledernen Beutel. Dann stand er auf.
„Lebt wohl,“ sagte er; „Euer Knecht ist mir zu lange; ich werde versuchen, weiter unterhalb über den Fluss zu kommen; wenn nicht eher, dann in der Stadt, wo ja eine Brücke ist.“
„Herr, ich will Euch ja doch hinüberrudern.“
„Das nehme ich nicht an,“ sagte Günther; „es liegt mir auch nichts daran. Etwas anderes wäre es, wenn Ihr mich zur Nachtzeit einmal nach der Insel rudern wolltet. Da solltet Ihr ein paar stattliche Goldfische von mir zu fangen bekommen.“
„Herr, das darf ich nicht. Ihr dürft die Insel nicht betreten.“
„So — aber der Dichter, Euer Freund, durfte es doch wohl. Oder ist er vom Himmel geschneit?“
„Ihr