Die Insel der Einsamen. Paul Keller
darf es nicht, Herr. Die Insel nimmt keine neuen Bewohner mehr auf, und Besuche sind ganz und gar verboten.“
„So wird sie nach und nach aussterben?“
„Das soll sie! Es sind nur ältere Eheleute auf der Insel, die keine Kinder mehr bekommen, und das Heiraten ist verboten. Der frühere Jäger fing eine Liebschaft mit der Tochter des Wasserweibes an. Die Mutter zeigte sie selber beim Inselgericht an, und die beiden Sünder wurden verbannt.“
„Was ist aus ihnen geworden?“
„Zugrunde gegangen sind sie. In die grosse Stadt gezogen, geheiratet, drei Kinder gekriegt und Arbeit von früh bis spät.“
„Das ist ja eine scheussliche Geschichte!“ sagte Günther.
„Ja, und seit der Zeit ist die Insel ganz abgesperrt, kein Mensch darf mehr hinüber oder herüber, keine Zeitung, kein Brief kommt hin.“
„Brauchen sie nicht manchmal einen Arzt, gehen sie nicht zur Kirche?“
„Der Herr Graf kennt alle Wissenschaften und kuriert die kranken Leute selber. Zur Kirche gehen sie nicht, denn sie sind Pessimisten.“
„Aber sie haben doch Bedürfnisse; sie brauchen doch Geräte, Instrumente, Kleider, Nahrungsmittel.“
„Die Insel bringt alles in Hülle und Fülle, was der Mensch braucht: Getreide, viel Obst, Wild, allerhand Tiere; und auch für das andere ist gesorgt, denn sie haben drüben einen Schneider, einen Schmied, einen Schuster, einen Leinwandweber, einen Müller, fünf Bauern und zwei Polizisten.“
Günther wiederholte langsam die Aufzählung und sagte:
„Das sind mit dem Grafen zusammen dreizehn Männer. Ihr sprachet aber von achtzehn.“
„Ja, da ist noch der Dichter, der Oberst, der Gärtner, der Hühneraugenschneider und der Narr.“
„O,“ rief Günther, „das ist eine gediegene Kumpanei! Wozu brauchen sie so notwendig einen Hühneraugenschneider?“
„Alle Pessimisten haben Hühneraugen,“ sagte Kajetan tiefsinnig.
„Und wer macht die feineren Arbeiten, so zum Exempel, wenn eine Uhr entzwei gegangen ist?“
„Sie brauchen keine Uhr,“ erklärte Kajetan. „Kein Mensch braucht eine Uhr. Wenn die Sonne steigt, ist Vormittag, wenn sie fällt, ist Nachmittag, und wenn sie gar nicht da ist, ist Nacht.“
„Was seid Ihr für glückliche Leute,“ seufzte Günther. Er schwieg eine Weile; dann sagte er:
„Der Herr Graf hat gewiss viele Bücher. Gibt er davon auch den anderen zu lesen?“
Kajetan schüttelte energisch den Kopf.
„Auf der ganzen Insel gibt es nicht ein einziges Buch. Habt Ihr gesehen, was in den Büchern für schwarze Reihen sind? Die Menschen nennen das Buchstaben. Ich aber sage Euch: das sind Heerlinien von Gauklern und Verbrechern, die darauf losmarschieren, die Menschen zu belügen und zu betrügen, ihnen das, was sie selbst an Gold in sich haben, gegen Blech und Scherben einzutauschen. Die Leute, die nicht lesen können, sind gegen sie gefeit; die anderen aber kriegen sie alle unter, und diejenigen, die die Klügsten sein wollen, zu allererst.“
„Mann,“ rief Günther bewundernd, „was habt Ihr für ein Gedächtnis; denn das habt Ihr doch auch wieder von dem Dichter!“
„Nein, das habe ich vom Herrn Grafen, der manchmal eine Andacht hält, bei der ich dabei sein darf. Die meisten auf der Insel können gar nicht lesen.“
„Auch des Grafen Tochter nicht?“
„Klotildis? Nein, die kennt keinen Buchstaben.“
Günther schlug die Hände zusammen.
„Sagt einmal, Meister Kajetan, ganz im Vertrauen: ist der Graf ganz klar im Kopf?“
Wieder fuhr Kajetan mit seiner Hand erschrocken nach dem Mund des Sprechers, der längst wieder bei ihm im Grase lag.
„Pst! Um Gottes willen! Ihr seid ein gefährlicher Mensch. Euch erzähle ich auch nicht ein Wort!“
Er äugte furchtsam nach der Insel hinüber, als könne er von dort beobachtet werden.
Nach einer Weile fragte Günther:
„Wie haltet Ihr es eigentlich mit dem Gelde, Meister Kajetan?“
Kajetan seufzte.
„Ich halte es gar nicht mit ihm, denn ich habe keines. Die Leute auf der Insel dürfen kein Geld haben, sie brauchen auch keines. Ich aber dürfte es haben und brauchte es auch; aber ich bekomme keines. Seit drei Tagen seid Ihr der erste Mensch, der um einen Dreier über den Fluss gesetzt sein will, und da ist nicht einmal der Knecht zu Hause. Was ist das für ein elendes Geschäft!“
„Ihr verkauft doch die Fische!“
„Lieber Herr, verkauft einmal Fische, wenn durch die ganze Welt dieser Fluss läuft, aus dem sich jeder selber sängt, was er an Fischen braucht. Der Fischfang bringt kaum so viel, dass ich meinen Knecht erhalten kann, der sehr viel isst und jährlich acht Taler Lohn will.“
„Was bekommt Ihr denn als Inselwächter?“
„Nichts! Alle Jahre drei geschlachtete Schweine, zwei Kähne voll Kartoffeln, zwei Kähne voll Obst und Kohl, sonst eben Hasen, junge Ziegen, Tauben, mal einen Hammel oder ein Kalb, sonst nichts, rein nichts.“
„Das ist ein Hungerleben!“ rief Günther mitleidig. „Da kenn’ ich Euch einen Mann auf den Besitzungen meines Vaters, der lebt ganz anders als Ihr. Er ist ungefähr Eures Alters und Eurer Statur, nur dass er — wie ich gleich bemerkte — viel ungeschickter und dümmer ist als Ihr. Aber was für ein Leben hat er. Er ist Zollwächter. Den ganzen Tag sitzt er in einem Lehnstuhl vor seinem schönen Zollhaus, raucht Tabak und hat die Füsse auf einem gepolsterten Schemelchen. Der Schlagbaum sperrt die Strasse ab, und wenn eine feine Kutsche kommt, springt der gnädige Herr selbst heraus, nimmt den Hut ab und sagt: „Bitte, Herr Zollwächter, lasst mich durch!“ Der Zollwächter hält die Hand auf, in die der gnädige Herr ein Silberstück legt, dann macht der Knecht die Schranke auf, der gnädige Herr steigt in den Wagen, grüsst und fährt davon, und der Knecht macht die Schranke wieder zu.“
Kajetan riss die Augen auf.
„Oh! Oh!“ Mehr brachte er nicht heraus.
„Kommt noch besser,“ fuhr Günther gleichmütig fort. „Zu dem Zollhaus gehört eine Wirtsstube. Abends erscheinen die Bürger der Stadt, der Zollwächter setzt sich zu ihnen an den Tisch, und dann geht es ans Geschichtenerzählen. Was nun überhaupt in der Welt passiert, wird erzählt. Zum Exempel, die Geschichte von den Griechen und dem hölzernen Pferde wusste unser Zollwächter schon vor drei Monaten; der Kuchenbäcker hatte sie mitgebracht. Natürlich wird viel getrunken: Wacholder, Kümmel und auch Wein. Und der Wirt hat alles umsonst.“
Kajetan warf sich weit hintenüber und strampelte mit den Beinen. Günther betrachtete ihn und sagte:
„Das erzähle ich Euch so nebenher. Was habt Ihr auch für ein Interesse an dem Zollwächter meines Vaters!“
Kajetan keuchte.
„Ist er noch gesund?“ fragte er.
„Wer? Mein Vater?“
„Nein, der Zollwächter! Hat er nicht die Gicht oder die Wassersucht oder ist er nicht wenigstens so alt, dass er bald sterben muss?“
„Nein, er ist ganz gesund, und wie ich Euch schon sagte, nur ebenso alt wie Ihr.“
„So — na dann —!“
Kajetan hieb die Faust ins grüne Gras und rührte sich nicht mehr.
Auch Günther sagte nichts mehr. Er nahm aus seinem Felleisen ein Fernrohr, schob es auseinander und suchte die Küste der Insel ab. Es dauerte eine ganze Weile, ehe Kajetan diesen Vorgang bemerkte und eine Menge höchst verwunderter Fragen tat. Günther