Jan wird Detektiv. Carlo Andersen
könnte er denn sonst mit dem Wasserstoffsuperoxyd gemacht haben?», beharrte Jan.
«Ich sage ja gar nicht, Herr Sherlock Holmes, daß du unrecht hast, sondern nur, daß wir noch nichts Bestimmtes wissen.»
«Kannst du mir keinen besonderen Hinweis geben, was diesen Gentleman-Harry betrifft?»
«Besondere Kennzeichen meinst du wohl?»
«Ja.»
«Er ist ein ziemlich flotter Bursche, groß und stark. Es ist nicht ganz ungefährlich, mit ihm aneinanderzugeraten. Aber er hat wirklich ein Kennzeichen, das so ausgeprägt ist, daß ihm alles Färben und Entfärben nicht viel nützen würde. Am rechten Arm hat er ein Muttermal, einen schmalen roten Streifen, der wie ein Armreif rings um das ganze Handgelenk geht. Diesem Kennzeichen kann Gentleman-Harry nicht entfliehen. Aber vielleicht schenken wir ihm ganz überflüssigerweise unsere Aufmerksamkeit; denn wer weiß, ob er am Ende mit der ganzen Sache überhaupt etwas zu schaffen hat? Erzähl mir nun lieber Neues von euren Seeräuberfahrten.»
Da begann Jan von dem fröhlichen Seglerleben mit den Kameraden zu berichten, und er hörte erst auf, als sie daheim angekommen waren.
5.
Das Examen war überstanden. Die Ferien begannen.
Um die Ferienfreude noch zu steigern, hatte das Schicksal Jan mit besseren Noten als erwartet durchs Examen rutschen lassen. Er war gewiß kein Faulpelz, aber so tüchtig und fleißig wie Erling war er nicht. Er strengte sich zwar an, es Erling gleichzutun, doch gab es wohl überhaupt keinen Schüler auf der Welt, der sich mit Erling hätte messen können.
Die beiden unzertrennlichen Freunde waren strahlender Laune, als sie nach der Schlußfeier mit gutem Gewissen und frohgespannter Ferienerwartung heimwärts gingen. Sie schmiedeten tausend Pläne. Sie hatten sogar daran gedacht, mit dem Velo nach Jütland zu fahren.
«Nehmt die Räder mit, aber fahrt mit dem Zuge», riet Kommissar Helmer. «Andernfalls sind die Ferien vorbei, bis ihr glücklich in Jütland angelangt seid!»
Die Buben widersprachen anfangs heftig; schließlich waren sie sich einig, daß es besser wäre, diesem Rate zu folgen.
Dann zogen sie an einem schönen Sommermorgen zum Hauptbahnhof, Boy an der Leine führend, die Rucksäcke gefüllt mit all den Kleidungsstücken, die sie für den Ferienaufenthalt auf dem jütländischen Gutshof brauchten. Frau Helmer und Erlings Eltern begleiteten die Buben zur Bahn. Die beiden konnten es kaum mehr erwarten, daß die Reise endlich losging, und so hörten sie nur mit halbem Ohr auf die Ermahnungen, die ihnen noch zuteil wurden. Sie stürmten durch die Wagen und suchten ein leeres Abteil, in dem Boy bleiben durfte. Als der Zug endlich aus der Bahnhofhalle dampfte, lehnten sie aus dem Fenster und winkten vergnügt.
Während der Fahrt gab es fortwährend etwas zu sehen, da die Reise durch die schöne seeländische Landschaft ging. Als sie in Korsör an Bord des Fährschiffs kamen, wurde die Sache noch aufregender. Sie bewunderten die großen Maschinen, betrachteten das schäumende Kielwasser und ließen sich nichts entgehen. Boy zeigte sich nicht weniger interessiert; doch erwies er sich im großen und ganzen als sehr sittsamer und ruhiger Reisegefährte, der von allen Mitreisenden ob seiner guten Haltung gelobt wurde. Aber er ließ sich von niemand streicheln; denn er war darauf dressiert, von Fremden keinerlei Zärtlichkeiten entgegenzunehmen. Er hielt sich die ganze Zeit dicht bei Jan und Erling und ließ kein Auge von ihnen; es war deutlich in seinen klugen Augen zu lesen, daß er dachte: Mit euch zwei flinken Burschen ist gut sein. Aber für eure Eltern ist es recht beruhigend, zu wissen, daß ich bei euch bin. Denn solltet ihr in eine Klemme geraten, so bin ich da, der euch aus der Patsche befreien wird. Wie recht er damit hatte, konnte vorläufig niemand ahnen.
Die Fahrt über Fünen verging im Nu. Die beiden Buben futterten ihren Reiseproviant, den die Mütter nicht zu knapp bemessen hatten, so daß sie trotz ihrem mächtigen Appetit satt wurden. Die Brücke über den Kleinen Belt wurde ihnen zum Erlebnis. Als sie über den langen Deich gefahren waren und sich ganz plötzlich hoch über den schimmernden Wellen des Belts auf der prächtigen, silbern glänzenden Brücke befanden, brachen die beiden Jungen in begeisterte Rufe aus.
Ein älterer Herr, der in einer Ecke saß und in einem Buche las, sah auf und sagte lächelnd: «Ja, ihr habt allen Grund, begeistert zu sein. Ihr könnt auch stolz sein, denn diese Brücke ist von dänischen Ingenieuren erbaut worden. In manchen Ländern, wo die Verhältnisse größer sind, gibt es noch größere Brücken. Aber ich glaube nicht, daß sich auf der ganzen Erde eine schönere Ingenieursarbeit findet als diese hier.»
«Es ist kaum zu verstehen, daß ein Mensch so etwas machen kann», bemerkte Jan mit ehrlicher Bewunderung.
«Ja, wahrhaftig», erwiderte der Herr, «man muß darüber staunen. Denkt nur, wie viele Gedanken in solch einer Brücke festgelegt sind. Denkt, wie viele Vorstudien dazu gemacht werden müssen, wie viele Bogen Papier vollgezeichnet und weggeworfen werden, wie vieler Überlegungen es bedarf, wie vieler Arbeitsstunden von Ingenieuren, Schmieden, Nietern, Erdarbeitern, bis die Brücke fertig ist und man darüber fahren kann. Ja, solch eine Brücke gibt allerhand zu denken.»
Während der fremde Herr sprach, hatten die Knaben immer wieder die flotten Linien der Brücke bewundert und die schöne Aussicht mit den Augen verschlungen. Nun schwieg der Herr und vertiefte sich wieder in sein Buch, während Jan und Erling das Gespräch über den Brückenbau fortsetzten. Der Zug fuhr weiter. Er passierte Fredericia, und in der Ferne sah man die Umrisse des Staatsgefängnisses von Horsens. Nachdem sie dann umgestiegen waren, fuhren die Buben auf Silkeborg zu, in dessen Nähe Christian Helmers Gutshof lag.
Als der Zug sich Silkeborg näherte, wurden die Buben ganz kribbelig vor Erwartung. Sie nahmen die Rucksäcke aus dem Netz, stellten sich im Seitengang auf und blickten zum Fenster hinaus. Es war jetzt Abend; im Westen flammte der Himmel rot, und Erling, der sich auch aufs Malen verstand, erklärte Jan die Farbwirkungen des Sonnenuntergangs. Jan aber hörte nur mit halbem Ohr zu; denn er wartete darauf, daß sie endlich an dem kleinen Landbahnhof von Raunstal ankamen, wo Onkel Christian sie abholen wollte. Als der Zug dort hielt, sprang Jan als erster hinaus. Ihm auf den Fersen folgte Boy, bei dem die Natur die Oberhand über die Erziehung gewann, so daß er ein lautes Freudengebell hören ließ, weil er nun wieder in Freiheit war. Erling kam langsam und bedächtig daher, und als er sich Gutsbesitzer Helmer näherte, hatte Jan schon längst die schwielige Hand des Onkels gedrückt, die Grüße von daheim ausgerichtet und von der Reise erzählt. «So, da wäre ja auch Erling», sagte Christian Helmer und gab dem Jungen die Hand. «Seit über einem Jahr hab’ ich dich nicht mehr gesehen. Du bist inzwischen auch nicht schlanker geworden.»
«Nein», erwiderte Erling mit schelmischem Blick, «aber denken Sie doch nur, Herr Helmer, wieviel man in einem Jahre essen kann.» Der Gutsbesitzer schlug Erling lachend auf die Schulter, worauf sie sich alle miteinander zu dem wartenden Auto begaben.
«Oh», sagte Erling enttäuscht, «ich hatte so gehofft, daß wir in einem Landauer mit braunen Pferden fahren würden!»
«So, so», brummte Christian Helmer, «ich hätte euch wohl vierspännig abholen sollen? Nein, mein Guter, heutzutage fährt man im Auto. Vielleicht wäre es besser, wenn man bei den Pferden geblieben wäre. Ich begreife selbst nicht recht, warum alles immer so geschwind gehen muß. Aber das soll es nun einmal. Wenn die ganze Welt sich daran gewöhnt hat, Auto zu fahren, muß Christian Helmer eben mitmachen. Das ist nicht zu ändern. Ich verspreche dir, Erling, daß du im Pferdewagen mitfahren kannst, sobald wir wieder mit den Rossen aufs Feld müssen. Das heißt jedoch, daß du um sechs Uhr morgens loszockeln mußt. So, nun hinein mit euch!»
6.
Von Anfang an waren die Ferien einfach wundervoll. Gutsbesitzer Helmer war ganz entzückt darüber, daß die Buben bei ihm zu Besuch weilten. Er war Witwer und hatte selbst keine Kinder; um so mehr Liebe brachte er den Kindern seines Bruders entgegen, und Jan war sein besonderer Liebling. Die beiden Knaben hatten es herrlich bei ihm. Christian Helmers Haushälterin, Fräulein Madsen – sie wurde immer nur «Mads» genannt – war eine energische Dame, die die Zügel des Haushalts in festen Händen hielt. Sie