Das Geheimnis des Brunnens. Paul Keller
Namen aussprechen. Nur Dich, teure Mutter, bitte ich, mich nicht einen einzigen Tag zu vergessen.
Berthold.“
Der „Brunnen“
Wenn man das Dominium des Barons von Guntram nicht in Betracht zog, war der Zöllnerhof bei weitem das grösste und stattlichste Anwesen des Dorfes Brosau. Vierhundert Morgen Ackerland, Wiese und Wald, das sind nach neuer Berechnung hundert Hektar. Ein schönes, fast herrschaftliches Gut. Vornehmes Wohnhaus. Eigene Jagd. —
Die Familie Zöllner sass seit uralter Zeit auf ihrer Scholle; es hiess, seit der Zeit Karls IV., der einen seiner Kriegsleute hier an neuerbauter Strasse als Zöllner einsetzte, der auch den „Brunnen“ entdeckt haben soll, ebenso wie er den Wunderquell des nach ihm benannten Weltbades Karlsbad entdeckt hat. Der Brunnen von Brosau lag auf dem Besitztum des Zöllnerbauern, etwa hundert Meter vom Gehöft entfernt, aber nur fünfzig Schritt von dem Bretterzaun, der den Zöllnerhof von dem benachbarten Anwesen des Bauern Hönig trennte.
Der Brunnen sprudelte in einer Fontäne von drei Meter Höhe heisses Wasser in so reichlicher Menge, dass es nach dem Dorfbach abgeleitet werden musste, der dann oft viele Meter weit dampfte. Dass es ein Heilwasser war, wussten die Leute seit alter Zeit. Die Aussentemperatur tat dem Brunnen nichts an; bei brodelnder Sommerhisse war das Wasser nicht wärmer als in schneidendem Winterfrost, im Winter nicht kühler als im Sommer. Natürlich fror der Brunnen niemals zu.
Sagen und Legenden spannen sich um den Brunnen. Freilich wurden sie in dieser neuen Zeit, in deren grellem Licht die alten Märchengestalten sterben, die Traditionen vergessen werden, die ehrwürdigen Gebräuche aufhören, fast nur noch Kindern erzählt. Da war die heiligste Frau übers heisse Feld gewandert, um armen Leuten beizustehen, und sie war an den Brunnen gekommen, der damals noch kühles, stilles Wasser führte. Dort hat die Heilige getrunken. Dabei ist ihr ihr goldenes Geschmeide in den Brunnen gefallen und liegt da bis heutigen Tages. Der Brunnen aber ist über solch hohe Ehre ganz heiss geworden und springt nun vor Freude gen Himmel, Tag und Nacht, Sommer und Winter.
„Nein“, sagte der Vater Seliger, „das ganze Gegenteil ist wahr; eine Hexe ist’s gewesen, die zu faul war, Wasser zu kochen, da hat sie einen Zauber über den Brunnen gemacht, und nun ist das heisse Wasser da. Die Leute im Zöllnerhofe holen es ja heute noch in grossen Kannen zum Geschirrabwaschen.“
„Alles Unsinn“, lachte dann Fleischermeister Peluschke. „Ihr wisst doch, dass es da so ein Gehänge mit Karl IV. und einem ,Goldenen Bullen‘ hat. Den goldenen Bullen hat der Kaiser, als er noch ein wilder Heide war, immer mit sich auf seinen Reisen herumgeführt wie die Juden das Goldene Kalb. Auf einmal hat er den Götzendienst satt gekriegt und sich am Brunnen taufen lassen. Den ,Goldenen Bullen‘ hat er in den Brunnen stürzen lassen. Der steht nun da unten und sprudelt und schnaubt ganz wütend. Das kann man an den vielen Blasen sehen, die aufsteigen.“
„Peluschke“, belehrte da ein Städter, „Sie sind im Irrtum. Die Goldene Bulle von Karl IV. war kein Rindvieh, sondern ein Gesetz. An dem Pergament des Gesetzes war eine goldene Kapsel befestigt als Siegel. Solch ein Siegel nannte man damals ,Bulle‘. Das ganze Gesetz hiess dann die ,Goldene Bulle‘.“
„Schnickschnack“, sagte Peluschke, „ich habe die Geschichte von meinem Urgrossvater. Der war schon zweiundneunzig Jahre alt. So alte Leute lügen nicht, sondern wissen Bescheid.“ —
Nun, das war Gerede und in der Hauptsache ja doch nur Scherz. Aber der Brunnen stand in hohem Ansehen. Wer am Magen litt, an der Leber oder an der Galle, kam zum Brunnen trinken oder holte sich das Wasser in grossen Flaschen oder gar in Fässern ab.
Die Zöllnerbauern hatten für solche Wassergäste immer einen besonderen Weg zu dem Brunnen durch ihren Garten freigelassen; aber schon der Vater des jetzigen Besitzers hatte ein Schild anbringen lassen: Privatweg. Widerruflich gestattet. In der Nacht wurde der Weg zum Brunnen durch ein Tor abgeschlossen.
Morgen auf dem Lande
Wenn die Stadtleute noch lange in den Federn liegen, wenn selbst die Arbeiter noch nicht daran denken, nach ihrer Fabrik zu eilen, dann brennt in den Bauernstuben schon Licht; dann werden in den Ställen schon die Tiere gefüttert, die Kühe gemolken, die Pferde gestriegelt. Siebenschläfer gibt’s auf dem Lande nicht. Leute, die sich bis um acht oder gar noch länger im „Bette herumsielen“, werden auf dem Dorfe verachtet. Selbst der Herr Pfarrer muss schon um sechs Uhr in der Kirche am Altare stehen. Im Sommer beginnt das Tagewerk um einhalb vier Uhr früh und währt ohne Pause, die kurze Essenszeit abgerechnet, bis zur sinkenden Sonne. Früh um fünf Uhr schläft auf dem Bauernhofe nur noch der Kettenhund; deshalb steht er auch nicht in besonderem Ansehen, sondern gilt als Faulpelz. —
Die Bauersfrau Anna Zöllner kochte in früher Stunde die Morgensuppe für die Leute, Milchsuppe mit grossen Scheiben eingebrockten Brotes; hinterher gab es dann noch Kaffee und Brot mit Butter und Weisskäse oder Schmalz bestrichen. Das ist nahrhaft und schmeckt gut.
Frau Zöllner war eine schmucke, rundliche Frau, Mitte der dreissiger Jahre. Sie war sicher ganz gesund, war arbeitsfreudig und die wohlhabendste Frau des Ortes. Trotzdem war ein leidender Zug in ihrem Gesicht. War es die Kriegsnot, die sie gezwungen hatte, ohne den zum Heeresdienst eingezogenen Mann das riesige Anwesen allein zu bewirtschaften? Mit den Mägden und einigen alten maroden Aushilfsarbeitern hatte sie vier Jahre lang wirtschaften müssen. Knechtsdienste hatte sie getan, hatte in der Erntezeit Getreide gemäht, schwere Garben auf die hohen Fuder gegabelt, war selbst hinter dem Pfluge und der Sämaschine gegangen. War es das? Oder war es etwas anderes, das die kräftige Frau müde und traurig machte? —
Eine Frau trat in den grossen Küchenraum.
„Guten Morgen.“
Sie, Frau Reich? Zu so früher Stunde?“
„Ich komme, um meine Lore abzuholen. Sie ist doch hoffentlich zu Hause?“
„Ich weiss es nicht“, sagte die Bauersfrau leise.
„Sie wissen es nicht? Eine Gutsfrau müsste doch wohl wissen, wo um die fünfte Morgenstunde ihre Leute sind.“
„Das ist richtig — aber ich weiss es nicht.“
„Sie war wieder zum Tanze?“
„Ich habe ihr gestern abend verboten, hinzugehen. Ob sie es doch getan hat, weiss ich nicht. Ich will hinaufgehen und in ihrer. Stube nachschauen.“ Frau Reich sank auf einen Küchenschemel und fing plötzlich an zu weinen.
„Meine Kinder! Meine Kinder! Gut und treu habe ich sie mit meinem seligen Manne erzogen — und nun er tot ist —“
Die Weinende brach ganz in sich zusammen. Die Gutsfrau stand mit unbewegtem Gesicht da und brachte kein Wort hervor.
„Mein Berthold ist fort — mein einziger Sohn! Fort in die weite Welt —— auf Nimmerwiederkehr! Da — da — lesen Sie —“
Sie reichte der Frau am Herde den Abschiedsbrief ihres Sohnes. Diese las ihn mit stieren Augen durch und gab ihn zurück.
„Ja“, sagte sie. Sonst nichts.
Der Milchkessel fing an zu sieden. Die Frau am Herde schob ihn mechanisch vom Feuer.
„Mein Sohn — mein schöner, lieber Sohn! Wie war er brav, wie hat er die Schule durchgemacht, immer als Erster seiner Klasse — immer als Erster — dann im Kriege — wie hat er sich geführt — schon im zweiten Jahr Offizier geworden — das Eiserne Kreuz Erster — zweimal verwundet — einmal verschüttet — durch Gottes Gnade gerettet und genesen — und nun, da der Krieg aus ist — wird er aus der Heimat vertrieben durch die Schande, die Lore über uns bringt; er ertrug es nicht, er war immer still und stolz, es quälte ihn, dass die Leute scheel oder spöttisch auf ihn sahen. Da habe ich die Lore verstossen. Ich habe es ihr geschrieben, in einem Briefe, habe ihr geschrieben, sie solle bleiben, wo sie ist, in ihrem Schmutz und Verderben; ich wollte mich nie wieder um sie kümmern.“
Die Frau brach in ihrem Jammern ab. Ein Weilchen sass sie still, dann sagte sie leise:
„Vier