Das Geheimnis des Brunnens. Paul Keller

Das Geheimnis des Brunnens - Paul  Keller


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kamen die kurzen Weihnachtsferien; die musste der Lehrer ausnutzen, wenn er Karl Zöllner nach Westfalen bringen und bei der Gelegenheit seinen Sohn besuchen wollte.

      Die Gutsfrau Anna Zöllner stand mit ihrem Sohne Karl vor dem grossen Bilde ihres Mannes, das über dem Sofa hing. Es war der 28. Dezember.

      „Nun, Karl, nun muss es sein, dass wir uns trennen. Glaube mit mir an Vaters Unschuld. Er ist kein Verbrecher; er ist ein Unglücklicher. Sei fleissig! Schreibe immer so, dass ich jeden Sonntag von dir einen Brief habe.“

      Dann zog sie den Kopf ihres Jungen an sich, machte ihm ein Kreuzlein auf die Stirn und sagte: „Behüte dich Gott!“

      Da hing der Jüngling weinend am Halse der Mutter. Aber dann rafften sie sich beide auf und gingen durch die grosse Halle in den Hof. Die Hausglocke, die sonst schrill war, läutete heute zum Abschied ganz leise; so zögernd und langsam hatte die Mutter die Tür geöffnet.

      Im Hofe stand Emil mit dem Glaswagen und den zwei besten Pferden. Karls Koffer war schon aufgeladen, auch die Reisetasche des Lehrers, die Emil gestern abend geholt hatte. Nur der Alte selbst war noch nicht da.

      Der war indes auf der Dorfstrasse der jungen Afra Guntram begegnet, der Tochter des Rittergutsbesitzers.

      „Schon so früh im Dorfe, Afra?“

      „Ich bin die Nacht bei der alten Guttmann gewesen. Sie ist krank und ist ganz verlassen. Da blieb ich bei ihr.“

      „Seltsames Rind! Krankendienst ist der schwerste Dienst auf Erden. Den übst du aus und bist erst sechzehn Jahre.“

      „Fast siebzehn.“

      „Nun ja — siebzehn! In dem Alter haben die Mädchen ganz anderes vor, als bei alten gebrechlichen Frauen zu wachen. Du hast das von deiner Mutter, Afra. Die war der gute Engel des Dorfes. Nur, dass sie so früh starb. Sie hat es nicht verwunden, dass dein Bruder fiel. Er war vierundzwanzig Jahre, nicht wahr, als er an der Lorettohöhe . . .“

      „Einundzwanzig“, sagte das Mädchen leise.

      „Einundzwanzig! Der Krieg! Einundzwanzig!“

      Dann erzählte der Lehrer, er gehe nun nach dem Zöllnerhofe und bringe von dort den Karl auf eine Schule nach Westfalen. Der junge Mann wolle nach dem alten Gymnasium nicht zurück, und das könne ihm wohl niemand verdenken.

      „Ihr kennt euch doch?“

      Afra errötete leicht. Als sie noch auf dem Lyzeum war, begegnete sie Karl Zöllner manchmal in der Stadt. Meist gingen sie nur grüssend aneinander vorüber, und wenn sie ja einmal miteinander sprachen, dann waren es nur ein paar Fragen und Antworten, die das eigene Befinden und die Ereignisse von zu Hause betrafen.

      Sie hatten sich immer gefreut, wenn sie sich sahen, und doch waren sie immer in seltsamer Beklemmung gewesen. Das ist die Zeit im Menschenleben, wo die Anemonen und Schneeglöckchen der ersten Kinderzeit verblüht sind, aber die heissen Rosen noch nicht glühen. Die schüchternen Veilchen sind da, aber auch diese schon haben den starken betörenden Duft junger Liebe. Vielleicht ist diese Liebe die süsseste des ganzen Menschenlebens.

      Afra erzählte, die alte Guttmann wollte durchaus Wasser aus dem Zöllnerschen Wunderbrunnen haben.

      „Und verschaffst du es ihr nicht?“

      „Ich will bloss warten . . . bis . . . bis Karl

      Zöllner fort ist; dann will ich seine Mutter fragen, ob ich Wasser aus dem Brunnen holen darf.“

      „Fürchtest du dich denn vor Karl?“

      „Fürchten nicht, aber . . . aber . . .“

      „Aber scheuen! Ja, ja, das ist so um die Siebzehn herum!“

      Er lachte leise und gütig.

      Vor dem Tore des Zöllnerhofes stand die Frau mit Karl. Sie warteten.

      „Es ist noch Zeit“, rief ihnen der Lehrer zu.

      „Ja“, sagte er, als sie herangekommen waren, „da habe ich unser Fräulein Afra getroffen. Das gute Seelchen hat die ganze Nacht bei der gichtischen Frau Guttmann gewacht.“

      Afra wurde rot; es war ihr nicht recht, dass der Alte das hier auskramte. Frau Zöllner begrüsste das junge Mädchen mit grosser Herzlichkeit, fast hätte sie ihr die Hand geküsst.

      „Wie die selige Frau Mutter! Ich muss nächstens einmal zum Herrn Vater kommen und mich für etwas ganz Grosses bedanken.

      Afra sah sie verwundert an, tat aber keine Frage. Karl aber und der alte Lehrer wussten, dass sich die Mutter dafür bedanken wollte, dass Herr von Guntram die böse Schuldfrage an die Geschworenen mit ,Nein‘ beantwortet hatte.

      „Und dann will das gnädige Fräulein einmal wegen Brunnenwasser anfragen. Die alte Guttmann wünscht es sich dringend.“

      „Brunnenwasser?“ rief Karl, wandte sich um, lief ins Haus zurück. Die Hausglocke schrillte, so war die Tür aufgerissen worden. Bald erschien Karl mit zwei mächtigen Wasserkannen, rannte nach dem Garten, stolperte, rannte weiter zum Brunnen.

      „Der hat’s eilig“, lächelte der Alte; „der ist eifrig!“ Ein schwaches Lächeln erschien auch auf dem bleichen Gesichte der Frau.

      „Manchmal ist er noch wie ein grosser Junge. Mir ist das lieb.“

      Das Mädchen sagte: „Mir ist es peinlich!“

      Karl kam zurück. Die Kannen dampften.

      „So — und jetzt fahren wir alle zur alten Guttmann; es ist nur ein kleiner Umweg, und zur Bahn haben wir Zeit.“

      Es wurde tatsächlich so. Afra wurde in den Wagen genötigt. Der Lehrer und Karl steigen ein, die Kannen wurden verfrachtet. Dieser ländliche Wagen war so breit und lang, dass alles bequem Platz hatte.

      „Leb’ wohl, Mutter!“

      Er küsste sie nicht mehr; er schämte sich jetzt vor dem Mädchen. So gab er ihr nur die Hand. Die Mutter sagte gar nichts, sie konnte nichts mehr sagen. Emil hielt die Pferde zu langsamem Gange an, damit das heisse Wasser nicht verschüttet werde. Zunächst sprach niemand ein Wort. Sie sassen alle drei im breiten Fond des Wagens. Der Alte hatte sich zwischen die jungen Leute setzen sollen, hatte das aber abgelehnt. Er wollte an dem einen Fenster sitzen. So sassen Karl und Afra dicht nebeneinander. Beide waren glühend rot, beide sahen starrgeradeaus. Kurz vor dem Hause der alten Kranken fragte Afra hastig:

      „Kommst du zu den Ferien?“

      „Zweimal im Jahre, im Sommer und zu Weihnachten.“

      Da hielt der Wagen. Emil trug das Wasser ins Haus. Afra reichte Karl die Hand. Die Hand war nass, und Karls Hand triefte. War das nun der Wasserdampf, der heisse Hauch der Brunnengöttin? Oder was war es?

      „Möge es dir gut gehen, Karl“, brachte Afra heraus.

      Da machte auch er sich forsch, fand eine Antwort und sagte:

      „Ich werde dir einmal eine Ansichtskarte schicken.“

      „Ja“, sagte das Mädchen und verschwand im Hause. —

      Nun fuhren sie zum Dorfe hinaus. An Vater Seligers ,Linde‘ vorüber ging es der Stadt, dem Bahnhof zu.

      Noch einmal grüssten die alten vertrauten Berge zum Wagenfenster herein. Karl sah sie mit wehen Augen an. Das junge Herz war ihm zum Zerspringen voll von Liebe und Abschiedsschmerz. Da hüllte ein rascher Nebel die Berge ein; die alten Vertrauten seiner Jugend verschwanden, so wie Afra verschwunden war.

      Nun sprach auch der Alte einmal.

      „Karl, es wird sich alles zum Guten wenden. Ich denke, die Afra wird auch etwas dabei zu tun haben.“

      „Die Afra?“

      „Ja, die Afra. Ist sie nicht lieb und gut?“

      „Ja“, sagte Karl, „sie ist lieb und gut — und — und so schön!“

      Und


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