Reboot. Robert Jacobi
Robert
Jacobi
Reboot.
Der Code für eine widerstandsfähige Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
Inhalt
3/ Warum wir uns digitalisieren
Für
Lucius
Einleitung/ Reboot: Warum?
Das erste Computervirus der Geschichte zeigte sich auf den ersten Blick gut gelaunt und freundlich. Es tauchte in den späten 1980er-Jahren auf, erschien beim Hochfahren des Amiga-Computers als ein orange-roter Balken auf schwarzem Hintergrund mit dem Schriftzug: »Etwas Wunderbares ist passiert – dein Amiga lebt!« Danach wurde es bösartig: »Und noch besser, einige deiner Dateien sind befallen von einem Virus!« Tatsächlich entpuppte sich dieses als unschädlich, als eine Art scherzhafte Mahnung eines Teams, das man heute als White-Hat Hacker bezeichnen würde, also als gutwillige Hacker, die Systeme infiltrieren, nicht um sie zu beschädigen, sondern um auf Sicherheitslücken hinzuweisen.1
Anders als dieses Computervirus wirken die biologischen Corona-Viren nicht nur harmlos. Schon in den frühen 1930er-Jahren wurde im US-Bundesstaat North Dakota eine neuartige Infektion mit diesem Virustyp bei Hühnern beschrieben, die massenhafte Tierverluste verursachte. In den 1960er-Jahren konnten die schottische Virologin June Almeida und ihr Kollege David Tyrell Viren des Typs Corona erstmals beim Menschen nachweisen. Unter dem Elektronenmikroskop waren Dutzende Zacken auf der Hülle der nur wenige Nanometer großen Viren zu erkennen, die der Virusfamilie ihren umgangssprachlichen Namen verliehen.2 Seit Ausbruch der Corona-Krise gibt es kaum eine TV-Nachrichtensendung, in der nicht eines der Zackenmonster auftaucht.
Auch wenn manche Verschwörungsmythen im Hinblick auf Corona das Gegenteil nahelegen: Der entscheidende Unterschied zwischen Computerviren und Corona-Viren ist, dass die biologischen Erreger nicht menschengemacht sind, aber Menschen befallen, und es sich bei Computerviren genau umgekehrt verhält. Was sie verbindet, ist, dass sie unverhofft kommen, sich ihre Ausbreitung nur schwer eindämmen und der durch sie erzeugte Schaden erst messen lässt, wenn die schlimmste Phase überstanden ist. Weil wir das wissen, treffen wir für beide Fälle Vorsorge. In dem einen installieren wir Virenscanner, im anderen stärken wir unsere Körperabwehr und/oder lassen uns impfen. Und bleiben doch anfällig für Gift und Schleim – was die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes Virus ist: Schleim, der sich schneller verbreitet, als unsere Diagnosetools reagieren können, und der mutiert, um einen zur Vermehrung notwendigen Vorsprung zu behalten, und so größtmöglichen Schaden anrichtet.
Einen Rechner herunterzufahren, zu säubern und neu zu kalibrieren, kostet Zeit, Energie und Geld. Vor der Corona-Krise schienen Cyberattacken eine der größten Bedrohungen für unser Wirtschaftsleben zu sein. Versicherungen bauten spezielle Produkte für den Zusammenbruch von Datennetzen. Firmen, die Sicherheitslösungen anboten, erhielten Milliardenbewertungen. Riesige Stäbe in Parlamenten und Behörden in den Bundesländern, in Berlin und in Brüssel arbeiteten jahrelang an Verordnungen zum Datenschutz. Vorkehrungen gegen eine mögliche Pandemie dagegen wurden mit deutlich weniger Aufwand getroffen, das öffentliche Interesse war gering.
Heute wissen wir: Der Schaden, den Corona-Viren und derzeit die Variante SARS-CoV-2 anrichten, trifft nicht nur Tausende Einzelmitglieder der Gesellschaft, sondern deren gesamtes Betriebssystem samt der globalen Wirtschaft. Eine ganze Gesellschaft in Zeiten einer grassierenden Pandemie herunterzufahren verursacht Aufwand, der ohne Vergleich ist zu dem, was die Folgenbewältigung eines Hackerangriffs bedeutet. Das Weltwirtschaftsforum schätzte den direkten und indirekten Schaden durch das Virus weltweit auf rund 16 Billionen Dollar – das Vierfache der deutschen Wirtschaftsleistung in einem Jahr –, und das noch vor der zweiten Welle im Herbst. Das übertreffe die Kosten für umfassende Vorkehrungen gegen eine Pandemie um das 500-Fache.3 Dazu kommen nicht messbare Schäden auf der emotionalen und psychologischen Ebene. Im Vergleich: Der Schaden, der durch Hacker, Datenlecks und Computerviren entstand, liegt bei rund einer Billion Dollar im Jahr.
Eine Gesellschaft hält einen Lockdown einmal aus, wenn es ihr davor halbwegs gut ging, aber nicht regelmäßig. Krisen verstärken sich gegenseitig, und Corona ist bei Weitem nicht die einzige, mit deren Folgen wir derzeit kämpfen. Es gibt Krisen, die sich langsamer ausbreiten, (noch) keine direkt spürbaren Bedrohungen verursachen und sich deshalb leichter ignorieren lassen – wie der Klimawandel beispielsweise, die zunehmende Wohlstandskluft und ihre Folgen. Trotz dieser Bedrohungen ist unsere Welt, statistisch gesehen, besser, als sie momentan gemacht wird. Jede neue Generation wächst in Summe wohlhabender und gesünder auf als die vorangegangene.4 Also einfach zurücklehnen und warten, bis wir uns von den Folgen der Pandemie erholt haben, und dann weitermachen wie bisher?
Nein, denn es geht darum, unsere Energie jetzt zielgerichtet einzusetzen. Es ist an der Zeit für einen Reboot. Große Krisen, im privaten, im beruflichen, aber auch im sozialen Kontext bieten die Chance, zu reifen und widerstandsfähiger zu werden, bessere Vorkehrungen für die nächste Hürde zu treffen. Genau das ist jetzt unsere Aufgabe. Mit unseren Computersystemen tun wir das längst, zumindest wenn wir unsere Software immer dann updaten, wenn wir dazu aufgefordert werden, und die Geräte danach neu starten, damit sie wieder so laufen, wie wir es wünschen. Die Krise bietet die Chance, auch Veränderung anzugehen, deren Bedarf in guten Zeiten schwieriger zu erkennen und erst recht umzusetzen ist. Die Energie dafür sollten wir bewahren, auch wenn der Impfstoff da ist und die Sorgen nicht mehr so groß sind.
Die Bundesregierung, die Europäische Union und andere Staaten haben in den Monaten der Krise ein Notfallprogramm gefahren. Kurzarbeit, Steuerstundung, Notkredite – Medizin aus dem Erste-Hilfe-Set, nicht aus dem Instrumentarium für Prävention und langfristige Stabilisierung. Was jetzt jedoch auf keinen Fall geschehen sollte, ist die Rückkehr zu einem Alltag