Reboot. Robert Jacobi
Ten Reasons We’re Wrong About the World – and Why Things Are Better Than You Think (Reprint). New York: Flatiron Books.
1/ Das System steht still
Wir alle kennen solche Situationen: Gerade eine lange Mail zu Ende getippt, noch eine Grafik in eine Präsentation eingefügt, eine Überweisung ausgefüllt – und auf einmal geht nichts mehr. Der Bildschirm ist eingefroren, die Tastatur reagiert nicht mehr, der Ventilator des Notebooks fängt an zu surren. Das System ist abgestürzt. Stillstand. Hoffentlich nur eine momentane Überlastung, der Speicher hat noch alles rechtzeitig gesichert. Harter Reset.
So ähnlich fühlt es sich an, als ich Mitte März mit meiner Frau Leonie und unserem drei Monate alten Sohn in der Küche unserer Wohnung sitze. Bundeskanzlerin Angela Merkel hält zum ersten Mal in ihrer Amtszeit, seit immerhin fast 15 Jahren, aus aktuellem Anlass eine Fernsehansprache an die Bürger. Wir schauen auf dem Tablet zu. Die Kanzlerin braucht 13 Minuten, und die haben es in sich: Solange es keinen Impfstoff und keine Therapie gegen Corona gebe, sei »die Richtschnur all unseres Handelns: die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, sie über die Monate zu strecken und so Zeit zu gewinnen«.5 Die Situation sei ernst, und sie sei offen. »Passen Sie auf sich und Ihre Liebsten auf!«, lauten ihre Schlussworte.
Schon zwei Tage zuvor kursierten erste Gerüchte, dass Bayern als erstes Bundesland die freie Bewegung der Bürger einschränken werde. Zu hoch sind die Ansteckungsraten, einerseits bei älteren Menschen, andererseits bei Rückkehrern aus dem Skiurlaub. Zum Zeitpunkt ihrer Rede weiß Merkel noch nicht, dass sie selbst in Quarantäne muss, weil ihr behandelnder Arzt sich infiziert hat. BMW stoppt die Produktion komplett, Bundesbankpräsident Jens Weidmann nennt eine Rezession unvermeidbar. Schulen und Kitas sind geschlossen. In Italien sterben 800 Menschen an einem einzigen Tag an den Folgen der Viruserkrankung. Finanzminister Olaf Scholz meldet, dass der Regierungsetat um 150 Milliarden Euro aufgestockt wird, um Soforthilfen zu ermöglichen. Das sind knapp 2000 Euro pro Bundesbürger.
Früher als die meisten anderen Unternehmen haben wir bei Nunatak unsere Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt. Eine kurze abendliche Diskussion im Management, ein Telefonat mit meinem Schwiegervater, einem Arzt, und es war so weit. Wenige Wochen zuvor hatten wir noch neue Büroräume angeschaut, da unsere Altbauetage für unser mehr als 30-köpfiges Team zu eng geworden war. Nun bleiben die Räume erst einmal leer. Zum Glück sind wir im Homeoffice sofort wieder arbeitsfähig, weil alle Daten in der Cloud liegen – anders als bei manchen unserer Kunden, die jetzt Tipps brauchen, wie sie möglichst schnell eine digitale Infrastruktur aufsetzen. Also das, was technisch längst möglich ist, aber selten auf Platz eins der Prioritätenliste stand.
Innerhalb weniger Tage friert die bewegte Welt ein. Jede nicht zwingend notwendige persönliche Interaktion wird ins Digitale verlegt. In den Innenstädten sind die Straßen wie leer gefegt, dafür werden die Datennetze hoffnungslos überlastet. Lehrer sollen plötzlich auf digitalen Unterricht umsteigen, auch jene, die im Internet eher eine für ihre Zwecke schädliche Technologie sehen und nicht wissen, wie man neue Software installiert. Gemeinsam mit dem Verein Digitale Stadt München entwickelten wir von Nunatak eine Reihe von Webinaren als Soforthilfe für Lehrer, Eltern und Schüler – der Zuspruch war groß, die Rückmeldungen klangen allesamt positiv und erleichtert. Die Süddeutsche Zeitung berichtete darüber und klagte: »Im europaweiten Vergleich bildet Deutschland auf Platz 27 das Schlusslicht bei der Digitalisierung der Schulen.« 6
Es ist ein Paradox: In der Krise bietet also genau jene Technologie den Ausweg, die bis dahin mit größten Risiken verbunden schien. Die Sorge davor, durch Digitalisierung angreifbar zu werden, ließ viele Firmen und noch mehr Institutionen zögern, den externen Zugriff auf interne Systeme zu ermöglichen. Die Krise macht es nun erforderlich, diese Begrenzung so schnell wie möglich aufzuheben, um produktiv weiterarbeiten zu können – ob vom Küchentisch, vom Sofa oder auch vom heimischen Arbeitszimmer aus. Noch im Jahr 2019 wurden Fachkonferenzen zu Cybersecurity weltweit zu Tausenden,7 zum Thema Pandemie und Biosecurity nur vereinzelt abgehalten.8 Sicherheit bleibt sehr wichtig, langsam aber rückt das Machbare in den Vordergrund.
Zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr war ich mit zwei Kollegen nach New York geflogen, um für unseren ersten Kunden dort einen Workshop zu moderieren und Gespräche mit dem Management zu führen. Parallel begleitete ich ein Team eines deutschen Medienunternehmens durch Newsrooms in Manhattan, um dort Anregungen für digitale Abläufe zu finden und Kontakte zu knüpfen. Meine letzte Dienstreise zu einer Verlagsgruppe in Düsseldorf ist im März 2020 schon einige Wochen her. Wann ich wieder eine unternehmen werde, ist unklar, ebenso die Frage, wann es Geschäfte über den Atlantik hinweg wieder geben wird. Ist nicht räumliche Nähe – auch oder erst recht im digitalen Zeitalter – ein wichtiger Faktor? Werden Aufträge vergeben an persönlich unbekannte Dienstleister, die Tausende Kilometer entfernt leben?
Dieser erste Stillstand bedeutet für die Menschen den größten Einschnitt in persönliche Freiheiten seit dem Zweiten Weltkrieg. Leere Straßen, geschlossene Flughäfen, verrammelte Geschäfte, und das über Wochen hinweg. Noch kurze Zeit zuvor hätte es niemand für möglich gehalten, unsere Gesellschaft so weitgehend stilllegen zu können. Erste Proteste und Verweigerer melden sich bereits lautstark, insbesondere auf den Social-Media-Plattformen. Rückblickend wissen wir, dass die deutsche Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal des Jahres 2020 um knapp zehn Prozent schrumpfte, ein Einbruch so stark wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik,9 und das direkt nach der längsten Phase des Aufschwungs. In unseren Nachbarländern und bei unseren Handelspartnern in Übersee sieht es ähnlich aus. Eine Katastrophe?
Mein erstes Wochenende im Lockdown verbringe ich damit, das System der Kurzarbeit im Detail zu verstehen und die Bestimmungen für Förderkredite zu lesen. Noch laufen unsere Verträge für die größeren Projekte, doch es zeichnet sich ab, dass Anfragen weniger und Gespräche aufgeschoben werden. In zwei Jahren hatten wir bei Nunatak unseren Umsatz verdoppelt und gerade im Januar einen Wachstumsplan für die nächsten Jahre besprochen. In weiteren Städten wollten wir Büros aufmachen. Jetzt geht es darum, die Firma stabil zu halten und Szenarien zu entwickeln, wie wir reagieren, wenn das Geschäft komplett wegbricht. »Ihr macht doch Digitalisierung«, höre ich aus meinem Umfeld, »das ist doch jetzt erst recht gefragt.« Das stimmt, nur wenn ein Konzern einen Ausgabestopp verhängt, trifft das auch Dienstleister, die bei der Digitalisierung helfen.
In einem Marketing-Newsletter, den ich regelmäßig lese, erwähnt der Verfasser das gerade von ihm wiederentdeckte Buch Wenn alles zusammenbricht: Hilfestellung für schwierige Zeiten von Pema Chödrön, einer buddhistischen Nonne aus New York. Später lade ich es auf meinen Kindle, darin zu lesen hilft mir in den nächsten Monaten sehr – auch wenn ich kein Buddhist und in Sachen Meditation eher ein Anfänger bin. Chödrön betrachtet Krisensituationen aus dem Blickwinkel ihrer philosophisch-religiösen Lehre, und das ist aufschlussreich. Ich versuche, den Fokus zu halten, indem ich jeden Morgen nicht nur eine Meditations-App nutze, sondern eine Seite in dem Buch lese: »Vielleicht ist unser einziger Feind die Tatsache, dass wir die Wirklichkeit, wie sie jetzt ist, nicht mögen und daher den dringenden Wunsch haben, sie solle schnellstmöglich verschwinden.« 10 Ja, ich mochte diese neue Wirklichkeit nicht, hatte und habe den Wunsch, dass dieses Virus so schnell wie möglich verschwinden möge. Pema Chödrön sagt dazu: »Ob wir das, was uns begegnet, als Hindernis und Feind oder als Lehrer und Freund erfahren, hängt voll und ganz von unserer Sicht der Wirklichkeit ab – abhängig von unserer Beziehung zu uns selbst.«
Wie groß könnten die Verluste sein, die durch die Krise entstehen? Welches Szenario ist für unsere Firma realistisch, für das ganze Land, für die Welt? Expertenrunden in Talkshows überschlagen sich mit Prognosen, suchen nach Erklärungen, widersprechen sich in ihren Empfehlungen. Die Börsenkurse brechen schneller ein, als der Ticker es melden kann. »Wir haben nichts zu verlieren«, schreibt Chödrön, »als die bis in unsere Zellkerne reichende Programmierung, dass wir viel zu verlieren haben.« Sich anzufreunden »mit dem gegenwärtigen Moment, mit der Hoffnungslosigkeit, mit dem Tod, mit der Tatsache, dass Dinge enden, dass sie vorbeigehen, dass sie keine dauerhafte Substanz besitzen, dass sich alles ständig wandelt – das ist die grundlegende Botschaft.« Auch und erst recht in Zeiten von Corona.
Leichter gesagt als