Reboot. Robert Jacobi
das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt eintreten werde. Schon im Jahr 2010 war er Berater für die Regierung von Singapur in Fragen des Umgangs mit einer möglicherweise eintretenden Pandemie.20
Auch der frühere Arzt und weltweit anerkannte Gesundheitsstatistiker Hans Rosling, der in seinem Buch Factfulness ein insgesamt optimistisches Bild der Welt von heute zeichnet, beschäftigt sich mit einem hochwahrscheinlichen Bedrohungspotenzial: Zwar warnt er vor Dramatisierung von Entwicklungen wie beispielsweise den Folgen des Bevölkerungswachstums, das sich seinen Berechnungen nach abflachen werde, nennt dann aber fünf erhebliche Risiken, die aus seiner Sicht das Potenzial haben, massenhaftes Leid in der Menschheit zu verursachen – entweder auf direkte Weise oder vermittelt dadurch, dass menschlicher Fortschritt für lange Zeit unterbrochen wird. An erster Stelle nennt der inzwischen verstorbene Autor eine »global pandemic«. Er erinnert an die Spanische Grippe, an der von 1918 bis 1920 mindestens 20 Millionen Menschen gestorben sind, und warnt, dass eine durch die Luft übertragene, hoch ansteckende Krankheit eine größere Bedrohung für die Menschheit darstelle als Ebola oder Aids. Die weiteren vier großen Risiken sieht er in finanziellem Zusammenbruch, einem dritten Weltkrieg, dem Klimawandel und extremer Armut.21
Auch an der Harvard Kennedy School, an der ich studiert habe, gab es Planspiele und Studien zu Pandemien; ebenso an eher konservativen Einrichtungen wie der Texas A&M University. Das dort angesiedelte Scowcroft Institute of International Affairs der Bush School of Government and Public Service hält jedes Jahr einen Pandemic Policy Summit ab. Vormittags Vorträge, nachmittags eine Simulation, bei der die Studierenden einer virtuellen Pandemie ausgesetzt sind und in Teams Antworten finden müssen.22
»Wir werden eine Pandemie erleben«, sagte Andrew Natsios, der Direktor des Instituts, zwei Jahre vor Corona. »Die Frage ist nur, wann.« Der letzte Pandemic Policy Summit fand im November 2019 statt – also wenige Wochen bevor sich SARS-CoV-2 von Wuhan aus in der Welt verbreitete und mehrere Hunderttausend Menschen an der Infektion starben. Die Fakultät und ihre Konferenzen werden von der Bush-Familie unterstützt, und tatsächlich war es George W. Bush – in der regelmäßigen Bewertung aller US-Präsidenten durch Historiker im untersten Drittel zu finden 23 –, der als einer der wenigen globalen Spitzenpolitiker das Pandemierisiko sehr weit oben auf seiner Agenda hatte.
Während eines Urlaubs auf seiner Ranch im Sommer 2005 hat er nach eigener Aussage in einem Vorabexemplar des Buchs The Great Influenza von John M. Barry gelesen. Es behandelt die Geschichte von der Spanischen Grippe. »Wenn wir darauf warten, dass eine Pandemie eintritt, wird es zu spät sein, sich darauf vorzubereiten«, sagte Bush nach dieser Lektüre. Also setzte er ein umfangreiches Pandemievorsorgeprogramm auf und stattete es mit sieben Milliarden Dollar Budget für drei Jahre aus. Zu dem Programm zählten Skizzen und Diagramme für ein globales Frühwarnsystem, Geldreserven für die schnelle Entwicklung eines Impfstoffs, der Aufbau von Lagern mit lebenswichtigen Waren für die gesamte Bevölkerung, darunter auch Gesichtsmasken und Beatmungsgeräte, und eine Website mit einem Notfallplan. Bush war, erinnerten sich seine Berater in der Corona-Krise, nicht nur besorgt, sondern vollkommen überzeugt davon, dass so ein Ereignis wirklich eintreten würde. Im November 2005 hielt er eine Rede vor Wissenschaftlern: »Eine Pandemie ist einem Waldbrand sehr ähnlich. Wenn sie früh erkannt wird, kann sie gestoppt werden, ohne allzu großen Schaden anzurichten. Wenn man sie schwelen lässt, unentdeckt, kann sie sich in ein Inferno auswachsen, das schnell unsere Kapazitäten übersteigt, es unter Kontrolle zu bringen.« Bald herrsche Mangel an allem – von medizinischen Fachkräften über Spritzen, Krankenhausbetten, Gesichtsmasken und Schutzkleidung.24
Heute klingt das geradezu hellseherisch; der übernächste Präsident nach Bush sollte massive Waldbrände und eine Pandemie zugleich erleben. Im Publikum saß bei Bushs Rede auch Anthony Fauci, Immunologe und bereits Leiter des National Institute of Allergy and Infectious Diseases – jener Fauci, den Donald Trump erst vor die Kameras zerrte und dann öffentlich diskreditierte. Fauci und andere Behörden entwickelten die Pläne unter Präsident Barack Obama weiter. Das Weiße Haus verfasste ein Playbook, in dem Folgendes zu lesen ist: »Ein neu aufkommender, ansteckender Krankheitserreger könnte eine folgenschwere, anfangs unklare Bedrohung der menschlichen Gesundheit darstellen. Jederzeit könnte sich beispielsweise eine Grippe zu einer Epidemie oder Pandemie entwickeln (…) In der ersten Stufe einer Krisenreaktion ist es entscheidend, herauszufinden, wie die Krankheit genau übertragen wird. Allerdings fehlen dazu anfangs möglicherweise Informationen.« 25
Mitarbeiter von Barack Obama veranstalteten mit dem Stab von Donald Trump kurz vor dessen Amtsübernahme ein Planspiel zu einer Pandemie. Noch im Jahr 2019 ließ die Trump-Regierung eine eigene Version unter dem Titel »Crimson Contagion« durchführen, unter Beteiligung aller relevanten staatlichen Behörden. Ein Dokument mit den wichtigsten Ergebnissen gelangte an die Öffentlichkeit, in dem der Satz zu lesen ist: »Gegenwärtig stehen unzureichende Mittel bereit, die im Fall einer Grippepandemie von der Bundesregierung eingesetzt werden könnten.«
Trump kürzte Budgets und Stäbe noch weiter, mit dem Argument, er sei ein Unternehmer, und als solcher möge er es nicht, wenn Leute herumsitzen, die nichts zu tun haben. Wenn sie gebraucht würden, könne man sie jederzeit zurückholen. Das Dokument listet viele weitere Probleme auf, unter anderem unklare Zuständigkeiten und Kommunikationswege zwischen den Behörden. Der allerletzte Satz lautet: »Diese Themen anzugehen, würde unsere Fähigkeit, eine gemeinsame Reaktion aufzusetzen, deutlich erhöhen und die Folgen einer Grippepandemie begrenzen, um amerikanische Leben zu retten.« 26
Ein umfangreiches Regierungsdokument ist zwar kein Shortcut, aber doch immerhin eine Art Gebrauchsanweisung für einen Reboot in einer absehbaren Gefahrenlage. Wie sah es in Deutschland aus? Hätten wir frühzeitiger reagieren können auf der Basis von Notfallplänen?
Tatsächlich ist das im vorherigen Kapitel erwähnte Dokument des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe nicht das einzige seiner Art; es gibt einen seit 2005 mehrfach überarbeiteten Nationalen Pandemieplan. Das Problem: Auch auf Landesebene gibt es Pandemiepläne. Als Corona sich ausbreitete, war also zunächst unklar, welche Behörde auf welcher Ebene welche Aufgabe übernehmen muss. Auf der Website des Robert Koch-Instituts sind Links zu 16 Pandemieplänen aufgeführt, für jedes Bundesland einer – ganz so, als hätten Grippeviren sich in der Vergangenheit bei ihrer Ausbreitung an solchen Ländergrenzen orientiert. Das Land Hessen hat unter diesem Link sogar einen eigenen Pandemieplan für seine Justizvollzugsanstalten hinterlegt; als könne man ein Virus einsperren. Bei Mecklenburg-Vorpommern führt der Link ins Leere, das Saarland dankt für den »Besuch unserer Saarlandseiten« und empfiehlt die Nutzung der neuen Navigationsmöglichkeiten, um den gesuchten Inhalt zu finden.
Allein schon die Wortkombination »Nationaler Pandemieplan« ist ein Widerspruch in sich, steht »pan« doch für »umfassend«, »total«, ganz zu schweigen von Pandemieplänen auf Landesebene.
Ein Ergebnis der fehlenden Aufgabenzuordnung zwischen Bund und Land und einer Vielzahl von Behörden auf allen Ebenen bis hinunter zu Städten und Gemeinden: Gesichtsmasken waren schon Anfang März 2020 ausverkauft – wie auch verlässliche Informationen Mangelware waren. Als ich mir damals in einer Apotheke in München eine Schutzmaske für eine Flugreise besorgen wollte, wurde mir dort erklärt, dass keine Masken mehr verfügbar seien, sie aber die Ausbreitung des Virus ohnehin nicht aufhalten würden. Als ich dann einige Wochen später zum ersten Mal eine Maske trug, war ich als Erstes besorgt, mein kleiner Sohn könnte durch diese »Vermummung« verängstigt werden. Er fand die neue Optik aber eher interessant.
Natürlich war auch bei der Weltgesundheitsorganisation ein Pandemieszenario längst Thema – die Schweinegrippe, Ebola und SARS waren gut sichtbare Warnsignale. Das Wissen, dass eine Pandemie jederzeit auftreten könnte, war also, wenn auch nicht in der breiten Öffentlichkeit, so doch bei entsprechenden Experten, vorhanden. Und obwohl das Risiko einer Pandemie lange vor Corona als hoch einzuschätzen war, blieben andere Themen auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda wichtiger. Der Klammergriff war irgendwo in bürokratischen Dokumenten versteckt und in dem Moment, als er gebraucht wurde, nicht einsetzbar – und selbst wenn, hätte sich erst noch die Frage gestellt: Wer ist befugt, ihn zu nutzen?
Der einzige Ausweg war, das System abzuschalten