Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet.. Werner Skrentny
auch schmerzhafte, ans Licht gebracht, die in unserer Familie so nicht (mehr) bekannt waren, aus welchen Gründen auch immer. Damit hat er den Nachkommen von Julius Hirsch und nicht nur diesen einen großen Dienst erwiesen. Für meine Frau und mich war es besonders beglückend, dass Werner Skrentny uns mit den Nachkommen von Gottfried Fuchs, dem Mannschaftskollegen und Freund meines Großvaters, sowie einem seiner Brüder, Richard Fuchs, wieder in Kontakt kommen ließ. Wir konnten damit sozusagen die durch die Nazis erzwungene Trennung, die viele Jahrzehnte währte, aufheben und haben heute lebendige, freundschaftliche Verbindungen nach Kanada und Neuseeland gewonnen.
Nicht zuletzt möchte ich Olliver Tietz, dem Geschäftsführer der DFBKulturstiftung, danken, dass er dieses Werk ermöglicht hat. Seit Jahren arbeiten wir freundschaftlich zusammen für die Gestaltung und Entwicklung des Julius-Hirsch-Preises, und wir sind sehr geehrt, daran teilnehmen zu dürfen.
Andreas Hirsch
PROLOG
Karlsruhe, 1. März 1943
„Am 1. März 1943 habe ich meinen Vater Julius Hirsch zum Hauptbahnhof in Karlsruhe gebracht, und von dort wurde er abtransportiert, in einem normalen Zugabteil. Es war eines der schrecklichsten Erlebnisse meines Lebens.
Es war ein strahlend schöner Tag. Noch heute kann ich nicht begreifen, dass an diesem Tag die Sonne scheinen konnte! Wir haben nicht geglaubt, dass wir ihn nie mehr wiedersehen werden.
Wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, sind dann alle mitten in der Nacht zur selben Zeit aufgewacht. Wir haben damals in einem Zimmer geschlafen. Und wir haben alle gedacht: ,Jetzt ist etwas passiert!‘
Mein Vater hatte keinen Gedanken daran, dass ihm die Deutschen etwas antun könnten. Er hat sich das gar nicht vorstellen können, als Frontkämpfer und als bekannter Fußball-Nationalspieler.
Er hing an Deutschland, er war für Deutschland – wie auch seine Brüder im Ersten Weltkrieg. Nie dachte er, dass man ihn so behandeln würde. Wie demütigend war es für ihn, als Zwangsarbeiter auf einem Karlsruher Schuttplatz zu arbeiten.
Er war ein gütiger Mensch und immer voller Verständnis. Ich habe ihn sehr geliebt und bin ihm für seine Zuneigung noch heute dankbar. Er war immer für ein freundliches und liebevolles Zusammenleben.“
Esther, geb. 1928, Tochter von Julius Hirsch; aus der unveröffentlichten Niederschrift „Wie hat ein Kind das Dritte Reich erlebt“ bzw. einem Interview mit dem Autor am 29.12.2006 in Karlsruhe.
KAPITEL 1
Vom Land in die Stadt \\\ Liberales Baden \\\ Geburtsort Nervenheilanstalt lllenau \\\ „Dem l. Gott danken“
Julius Hirsch kommt am 7. April 1892 zur Welt. Allerdings nicht in seiner Heimatstadt Karlsruhe, sondern andernorts, wovon zu berichten sein wird.
Die Familie des späteren Fußball-Nationalspielers war vom Land in die Stadt gezogen. Es waren die Pogrome des Mittelalters gewesen, die die Juden einst zum umgekehrten Prozess gezwungen hatten. Erst seit 1862 galt für sie in Baden mit der uneingeschränkten Gleichberechtigung die Freizügigkeit und damit auch die Möglichkeit, sich wieder in den Städten anzusiedeln. Baden, das liberale Großherzogtum, war der erste deutsche Staat, der diese Rechte gewährte.
Karlsruhe, seit 1806 Residenz der badischen Großherzöge und sogenannte Beamtenstadt, erschien dabei nicht unbedingt als Anziehungspunkt für Zuwanderer vom Land. Als attraktiver galt Mannheim, der lebendige Handelsplatz samt seinem wirtschaftlichen Aufschwung infolge Industrialisierung und Hafen. Aber wie auch immer: Die Hirschs zogen nach Karlsruhe.
„Die Gräber meiner Ahnen“
Bei den Vorfahren der Familie tauchen angesichts der oben geschilderten Entwicklung die Dörfer Obergrombach und Untergrombach bei Bruchsal in Nordbaden als Geburts- und Sterbeorte auf. Heinold (Heino) Hirsch, der Sohn des Nationalspielers, hat diese Orte in jungen Jahren um 1934 einmal besucht und in einem Schulaufsatz in der NS-Zeit seine Erinnerungen festgehalten: „Ein herrlich gelegener, stiller Waldfriedhof bei Untergrombach birgt die Gräber meiner Ahnen väterlicherseits. Leider hat der Einfluss der Witterung die Schrift fast ganz unleserlich gemacht. Übrigens hätten die Namen auch keinen großen Wert, da die Juden erst ab 1812 Familiennamen annehmen mussten, und zwar innerhalb kurzer Zeit, wodurch sich auch die vielen wunderlichen Namen erklären, die bei Juden häufig vorkommen.“
Auf dem Jüdischen Friedhof von Obergrombach, den Heinold Hirsch um 1934 aufgesucht hat, werden 1938/39 in der NS-Zeit 1.800 Grabsteine umgeworfen und entfernt. 1992 hat man etwa 700 davon geborgen und zurück auf den Friedhof gebracht.
Geburtsort Achern bzw. Illenau
Der Großvater von Julius Hirsch, Raphael Hirsch, war Landwirt in Weingarten bei Karlsruhe. Er wurde einer der ersten Agenten der Feuerversicherung Colonia, 1839 als Kölnische Feuer-Versicherungs-Gesellschaft vom Bankhaus Sal. (d.i. Salomon) Oppenheim jr. & Cie gegründet. Auch der Vater von Julius Hirsch, Berthold Hirsch, wurde 1848 im badischen Weingarten, damals zugehörig zum Amt Durlach, geboren.
Als Berthold Hirsch am 23. Februar 1874 „Fräulein Emma Erlanger aus Buchau am Federsee im Königreich Württemberg“ heiratet, ist er bereits in Karlsruhe als Kaufmann in der Textilbranche ansässig. Emma Hirsch, geb. Erlanger, ist bei der Eheschließung 24 Jahre alt. Sie stammt aus dem erwähnten Buchau (heute Bad Buchau) in Oberschwaben, dessen jüdische Gemeinde kurz nach Emmas Geburt im Jahr 1850 828 Angehörige zählt – das ist etwa ein Drittel der Bevölkerung des Ortes. Emmas Eltern Marx Erlanger und Pauline zählen sieben Kinder. Der Geburtsname von Pauline übrigens ist Einstein – und der Vater Hermann des späteren Nobelpreisträgers Albert Einstein stammt wie sie aus Buchau.
Die berufliche Laufbahn von Emma Hirsch, der Mutter von Julius, lässt sich recht präzise nachzeichnen: Schulbesuch in Buchau bis zum 14. Lebensjahr, anschließend als Hilfe bei Verwandten im Kurort Homburg vor der Höhe in Hessen (heute Bad Homburg) beschäftigt, vermutlich in einem Modegeschäft. „Ein lebhafter Geist mit Witz und Humor begabt“, vermerkt ihre Patientenakte in der Illenau (die auch Quelle für weitere Zitate ist). Emma Erlanger wird Directrice und kehrt, 20 Jahre jung, zurück nach Buchau, wo sie ein Damenhut-Geschäft eröffnet, „in welchem sie sich in Folge Geschmacks und guter Manieren eine große Kundschaft erwarb“. Enkel Heinold beschreibt seine Großmutter 1938 in einem weiteren Schulaufsatz als „schöne, stattliche Frau, die wie mein Großvater Benjamin (Anm.: d.i. Berthold Benjamin Hirsch) in der Welt weit herumkam. Sie war zur Ausbildung als Modistin in Paris und eine lebenstüchtige Frau.“
Die neu erbaute Häuserzeile Kaiserstr. 164-172 entstand auf dem Terrain des ehemaligen Langenstein’schen Gartens. Ins Gebäude nr. 166 zog die Tuchhandlung Gebrüder Hirsch ein.
Beruflich kommt auch Ehemann Berthold in der badischen Residenz Karlsruhe voran. Die Textilbranche ist eine jüdische Domäne, und die Tuchhandlung Gebrüder Hirsch – Teilhaber sind neben Berthold noch dessen Brüder Albert und Bernhard – lässt sich schließlich in der Kaiserstraße 166 nieder, bis heute die Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Berthold Hirsch ist beruflich viel unterwegs; seine Reisen dauern bis zu vier Wochen, und als Unterkünfte nutzt er noble Hotel-Etablissements.
Sieben Kinder, 14 Schwangerschaften
Bevor Emma Hirsch 1892 Julius das Leben schenkt, bringt sie sechs Kinder zur Welt: Anna (1877), Rosa (1878), Hermann (31.7.1879), Leopold (14.11.1880), Max (1887) und Raphael (unbekannt). Zwischen 1874, dem Zeitpunkt der Heirat, und 1890 werden weitere sieben Kinder geboren. Die ersten beiden, 1874 und 1875, sind Fehlgeburten. Emma erholt sich danach in Griesbach im Schwarzwald, ein dreiviertel Jahr lang ist sie bettlägerig. Zwei Kinder sterben früh an Schwäche und Durchfall. Es ereignen sich zwei weitere Fehlgeburten, und ein Kind kommt 1889 infolge von Diphterie ums Leben. Als Emma Hirsch am 10. Oktober 1891 in