Julius Hirsch. Nationalspieler. Ermordet.. Werner Skrentny
Goldenen Hochzeit der Eltern von Julius Hirsch 1924 wurde dieser Stammbaum erstellt.
Dies sind 14 Schwangerschaften im Zeitraum von 18 Jahren. Nach einer weiteren Entbindung 1883 erleidet die Frau drei Wochen später während einer Erholungsreise in ihren Heimatort Buchau einen Schlaganfall. Zurück bleibt eine Sprachstörung. Ein weiterer, diesmal leichterer Schlaganfall trifft sie 1887. Ihre Persönlichkeit verändert sich infolge der Krankheit, und ein Professor diagnostiziert Paralysis incipiens (eine beginnende Lähmung). Im Erholungsort Triberg im Schwarzwald wird sie 1889 vier Wochen lang behandelt, und auch den August 1891 verbringt die Frau zur Erholung im Schwarzwald. „Viele häusliche deprimierende Ereignisse, Todesfälle und Krankheiten“ (Patientenakte der Heilanstalt Illenau) führen schließlich zur Diagnose: „Demenz nach Schlaganfall“.
Emma Hirsch, sie ist damals 40 Jahre alt, wird am 10. Oktober 1891 nachmittags auf Anraten des praktischen Arztes Dr. Lyon Seeligmann aus Karlsruhe in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau bei Achern aufgenommen. Illenau, das steht für „Verrückte“, wie man damals psychiatrische Patientinnen und Patienten bezeichnete. Noch in jungen Jahren des Autors in Württemberg hieß es bei entsprechendem Verdacht: „Der kommt noch nach Zwiefalten!“ In Baden haben sie dafür Wiesloch und eben die Illenau in Achern im Mittelbadischen genannt.
Diese weit verbreitete und vorurteilsbeladene Ansicht, die unter „Volksmund“ firmiert, lässt den damaligen Standard der Nervenheilkunde außer Acht, der sich auch in den vorbildlichen Behandlungsmethoden der Illenau niederschlug. Die moderne Heilanstalt genoss als großräumiges „Landasyl“ mit Freiräumen, Gärten und Feldern europaweit einen ausgezeichneten Ruf, und viele Patientinnen und Patienten konnten als geheilt entlassen werden.
Die Patientenakten der Anstalt kann man heute im Staatsarchiv Freiburg einsehen. Wir werden uns hier auf biografische Angaben beschränken, denn die detaillierte Krankengeschichte von Emma Hirsch ist für dieses Buch nicht von Belang.
„Ein kräftiger Knabe“
Emma Hirsch bleibt vom 10. Oktober bis 23. Dezember 1891 in der Illenau. Ehemann Berthold holt sie ab, als im Ludwig-Wilhelm-Stift in Karlsruhe eine erneute Entbindung vorgesehen ist. Diese findet nicht statt: Es muss eine Fehldiagnose vorgelegen haben. Am 10. Januar 1892 kehrt Emma Hirsch in die Illenau nach Achern zurück, und am 7. April wird dort ihr Sohn Julius, das jüngste Kind der Familie, geboren. Sie wird ihn, wie die anderen Kinder zuvor, nicht stillen können: Das erledigen Ammen.
Die Patientinnenakte berichtet unter dem Datum 7. April 1892: „Die Patientin, welche seit ihrer zweiten Aufnahme auf Gravidität (Anm.: Schwangerschaft) in Rücksicht auf die Schwierigkeit der Untersuchung nicht wieder untersucht worden ist, da das Gutachten des Geheimrats Molitor, Karlsruhe, eine Schwangerschaft ausschloss, kommt heute früh 9 ½ Uhr mit einem kräftigen Knaben nieder. (…) Geburt verläuft normal. (…) Am 9. April Kind zur Hebamme gegeben.“
Julius Hirsch, der Neugeborene, wird 47 Jahre später aus ganz anderen Gründen als Patient in die Illenau zurückkehren. In seinem Aufnahmeprotokoll werden die Ärzte den Geburtsort Achern bzw. Illenau dann mit einem roten Ausrufezeichen versehen.
Emma Hirsch bleibt noch bis August 1892 dort. Ihr Ehemann Berthold schreibt am 27. November 1893 „An die Direction der Grossherzoglichen Badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau“: „(…) habe ich die Ehre Ihnen hiermit die erfreuliche Mitteilung zu machen, dass es meiner l. Frau sehr gut ergeht.(…) Die häusliche Arbeit, die Umgebung und die nach Kräften genossene Schonung, auch der tägliche Aufenthalt in freier Luft, hat dazu beigetragen, dass jetzt meine l. Frau wieder vollständig gesund ist, wofür ich dem l. Gott nicht genug danken kann.“
KAPITEL 2
„Karlsruhe, Deutschlands Fußballmetropole“ \\\ Sportpresse-Anfänge \\\ Hirsch erlebt Oxford, einen Zuschauerrekord und schließt Freundschaft mit Gottfried Fuchs
„Karlsruhe, Deutschlands Fußballmetropole“? Aus heutiger Sicht würde man diesen Begriff bestimmt nicht mehr wählen. Lang, sehr lang, ist das her in einer Zeit, in der sich Fernsehzuschauer wie der Autor angesichts des Einwurfs von ARD-„Sportschau“-Moderator Reinhold Beckmann anno 2011 wie Zeitzeugen auf dem Altenteil vorkommen müssen: „Wer weiß eigentlich noch, dass der 1. FC Saarbrücken in der Bundesliga spielte?“ (Anm.: Erstmals war das 1963/64.)
Jedoch: Anfang des 20. Jahrhunderts genoss Karlsruhe diesen Ruf der „Fußballmetropole“, dank der beiden Deutschen Meister Phönix Karlsruhe und Karlsruher FV. Doch bereits in den 1920er Jahren galten beide Klubs als „Altmeister“, eine Bezeichnung, die später auf den Nürnberger „Club“ und Schalke 04 überging. Heute ist dieser Begriff nicht mehr gebräuchlich, obwohl es dafür reichlich Kandidaten geben würde.
„Aus Deutschlands Fußballmetropole“ war denn auch ein Beitrag der „Illustrierten Sportzeitung“ aus München vom 19. Mai 1910 betitelt:
„Wer fragt, wo in Deutschland Fußball gespielt wird, dem wird der Eingeweihte immer in erster Linie den Namen der badischen Residenzstadt Karlsruhe nennen. Durch die fast leidenschaftliche Hingabe vieler Anhänger des Fußballspiels während einer langen Reihe von Jahren ist das anfangs auch in Karlsruhe verkannte Fußballspiel so hoch gekommen, dass heute dort fast kein erstklassiges Wettspiel ohne die Teilnahme Tausender stattfindet.
Das Schöne ist, dass die Zuschauer aus allen Bevölkerungsschichten sich zusammensetzen. Da sehen wir Soldaten mit ihren Mädels am Arm, dort Mitglieder des Fürstenhauses; auch alle Altersstufen sind vertreten, die Schuljugend und ergraute Männer. Arm und reich, jung und alt werden durch das Fußballspiel begeistert. Das will etwas heißen in einer Stadt, deren gesellschaftliches Leben als steif und spießbürgerlich bezeichnet wird.“
Ähnliches wiederholte die Zeitschrift im selben Jahr: „Einige Tausend Einwohner der badischen Residenz verbringen den Sonntag-Nachmittag regelmäßig bei den Fußball-Wettkämpfen. Die Ligameisterschaftsspiele sind zu Ereignissen geworden, welche im öffentlichen Leben der Stadt viel bemerkt werden. Seit in Deutschland Associations-Fußball gespielt wird, hört man von den vollendeten Leistungen Karlsruher Mannschaften. Karlsruhe ist die Wiege des deutschen Fußballsportes.“
Fußballpate Walther Bensemann
Der Pate an dieser Wiege – oder besser: „Der Mann, der den Fußball nach Deutschland brachte“, so der Titel des biografischen Romans von Bernd-M. Beyer (der zwischenzeitlich in Karlsruhe so geläufig ist, dass ihn die Nachkommen von Zeitzeugen zitieren!) – hieß Walther Bensemann (1873-1934). Bensemann, eine der herausragenden Persönlichkeiten deutscher Fußballgeschichte, lebte ab 1889 als Schüler in Karlsruhe, hatte den sogenannten Associations-Fußball in der badischen Residenz eingeführt und gilt als (Mit-)Begründer des Karlsruher Fußball-Vereins (KFV). Wann immer später von der Fußballhochburg Karlsruhe berichtet wurde, oft auch aus Bensemanns Feder, nahm der jüdische Pädagoge die Hauptrolle ein. Von Karlsruhe und dessen früher Fußballtradition hat Walther Bensemann zeitlebens nie gelassen.
Auch 1910 wurde er wieder einmal erwähnt, in Erinnerung an die 1890er Jahre, „als Bensemann zum ersten Male einen freien Platz in Karlsruhe mit Tuch umspannen ließ, um 10 Pfg. Eintritt zu erheben“. Ein Vergleich mit damals zeige „drastisch, wie mächtig die Fußballbewegung in Karlsruhe sich ausgedehnt hat“, denn die Eintrittspreise würden nun 50 Pfennige bis drei Mark betragen. Gebe es wie 1910 an einem Tag zwei Ligabegegnungen in der Stadt, „so laufen viele Zuschauer nach Beendigung des einen Spieles im Sturmschritt zu dem beträchtlich entfernten anderen Platz, um auch das andere Spiel anzusehen“.
Das Fazit des Beitrags: „Zweifellos ist die Ausdehnung einer solchen Bewegung sehr erfreulich und gewiss fördernswert, nachdem dieselbe für alle Beteiligten den Aufenthalt in frischer Luft mit sich bringt.“ Ja, derlei hat man vor einiger Zeit von älteren Männern nach einem miserablen Spiel auf der inzwischen leider abgegangenen Spielstätte von Concordia Hamburg gehört: „Wenigstens waren wir an der frischen Luft!“
Fußball-Pioniere in der