Das Ende des Wachstums. Richard Heinberg

Das Ende des Wachstums - Richard Heinberg


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hat das System insgesamt einen eingebauten Expansionsdrang. Marx schrieb auch, der Kapitalismus sei seiner Natur nach nicht nachhaltig, denn wenn die Arbeiter durch die Kapitalisten weit genug in Armut getrieben sind, werden sie sich erheben, ihre Herren stürzen und einen kommunistischen Staat errichten (oder schließlich das Arbeiterparadies ohne Staat).

      Der rücksichtslose Kapitalismus des 19. Jahrhunderts führte zu Phasen von Konjunktur und Krise und einem großen Ungleichgewicht bei der Verteilung des Reichtums – und deshalb zu viel gesellschaftlicher Unruhe. Mit Blick auf die Krise von 1873, den Crash von 1907 und schließlich die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hatten viele zeitgenössische Gesellschaftskommentatoren den Eindruck, der Kapitalismus sei in der Tat im Scheitern begriffen und soziale Erhebungen, wie von Marx prophezeit, seien unvermeidlich. Die bolschewistische Revolution 1917 schien diese Hoffnungen oder Befürchtungen (je nach Standpunkt des Betrachters) zu bestätigen.

      Wirtschaftswissenschaft im 20. Jahrhundert

      Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Sozialliberalismus als eine gemäßigte Antwort auf den reinen Kapitalismus wie auf den Marxismus. Die Pioniere des sozialliberalen Denkens, der Soziologe Lester F. Ward (1841–1913), der Psychologe William James (1842–1910), der Philosoph John Dewey (1859–1952) und der Arzt und Essayist Oliver Wendell Holmes (1809–1894), argumentierten, die Regierung habe die legitime wirtschaftliche Aufgabe, sich um soziale Belange wie Arbeitslosigkeit, Gesundheitswesen und Bildung zu kümmern. Die Sozialliberalen kritisierten die hemmungslose Konzentration von Reichtum in der Gesellschaft und die Lebensbedingungen von Fabrikarbeitern und bekundeten zugleich Sympathie für Gewerkschaften. Ihr übergeordnetes Ziel war es, die Dynamik des privaten Kapitals zu erhalten, aber seine Exzesse einzuschränken.

      Nichtmarxistische Ökonomen kanalisierten die sozialliberalen Ideen in ökonomische Reformen wie die progressive Einkommensbesteuerung und das Kartellrecht. Der einflußreichste Vertreter dieser Schule im frühen 20. Jahrhundert war John Maynard Keynes (1883–1946). Er empfahl, wenn die Wirtschaft in eine Rezession gerät, solle die Regierung großzügig Geld ausgeben, um das Wachstum anzukurbeln. Franklin Roosevelts Programme im Rahmen des New Deal in den 1930er Jahren waren ein Labor für keynesianische Wirtschaftswissenschaft, und allgemein ist man der Meinung, daß die gewaltigen Kreditaufnahmen und Ausgaben der Regierung im Zweiten Weltkrieg die Weltwirtschaftskrise beendeten und die Vereinigten Staaten auf den Pfad des Wirtschaftswachstums zurückbrachten.

      Die nächsten Jahrzehnte waren beherrscht vom Gegensatz zwischen keynesianischen Sozialliberalen, Anhängern von Marx und zeitweilig marginalisierten neoklassischen oder neoliberalen Ökonomen, die darauf beharrten, soziale Reformen, staatliche Kreditaufnahme und Manipulationen mit Zinssätzen würden nur die einzigartige Effizienz des freien Marktes behindern.

      Mit dem Fall der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre verstummte der Marxismus als überzeugende Stimme in der Wirtschaftswissenschaft. Er verschwand praktisch aus der Diskussion, und das schuf Raum für den raschen Aufstieg der Neoliberalen, die schon seit geraumer Zeit Auftrieb aus dem verbreiteten Unbehagen über den Zwangscharakter und die Ineffizienz staatlicher Planwirtschaften zogen. Margaret Thatcher und Ronald Reagan stützten sich beide stark auf Empfehlungen neoliberaler Denker wie des Monetaristen Milton Friedman (1912–2006) und der Vertreter der Österreichischen Schule von Friedrich von Hayek (1899–1992).

      Heute gibt es in Rußland eine Redensart: Marx hatte unrecht mit allem, was er über den Kommunismus sagte, aber er hatte recht mit allem, was er über den Kapitalismus schrieb. Seit den 1980er Jahren hat die nahezu weltweit zu beobachtende Rückkehr zum klassischen ökonomischen Denken zu wachsender Ungleichheit bei der Verteilung des Reichtums geführt, in den Vereinigten Staaten wie anderswo, und zu häufigeren und schlimmeren ökonomischen Blasen und Einbrüchen.

      Das bringt uns zu der weltweiten Krise, die 2007/2008 begann. Um diese Zeit waren die beiden verbliebenen großen Lager des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams – die Keynesianer und die Neoliberalen – überzeugt, anhaltendes Wachstum sei das rationale und erreichbare Ziel einer Volkswirtschaft. Die Diskussion drehte sich nur darum, wie sich das Wachstum erhalten ließ: durch Intervention der Regierung oder durch Laissez-faire in der Annahme, der Markt wisse es immer am besten.

      Doch im Jahr 2008 endete in vielen Ländern das Wirtschaftswachstum, und Versuche, es wieder in Gang zu bringen, hatten bisher nur begrenzten Erfolg. Tatsächlich fällt bei einigen Kennzahlen die US-Wirtschaft weiter zurück oder tritt bestenfalls auf der Stelle. Diese düstere Realität bringt beide ökonomische Lager in Schwierigkeiten. Sie ist eindeutig eine Herausforderung für die Neoliberalen, die mit ihrer Deregulierungspolitik maßgeblich dafür Verantwortung tragen, daß das System der Schattenbanken entstand, dessen Implosion allgemein als Auslöser der gegenwärtigen Wirtschaftskrise gesehen wird. Aber sie ist auch ein Problem für die Keynesianer, deren Konjunkturprogramme dabei versagt haben, mehr Beschäftigung zu schaffen und allgemein die Wirtschaft zu beleben. Wir haben also eine Krise nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der ökonomischen Theorie und Philosophie.

      Der ideologische Zusammenprall zwischen Keynesianern und Neoliberalen (der bis zu einem gewissen Grad in dem eskalierenden Krieg bis aufs Messer zwischen Demokraten und Republikanern in den Vereinigten Staaten zum Ausdruck kommt) wird sich ohne Zweifel fortsetzen und sogar noch an Schärfe gewinnen. Die Auseinandersetzung wird allerdings wenig Erhellendes bringen, wenn beide Denkrichtungen an denselben grundlegenden Irrtümern festhalten. Ein solcher Irrtum ist der Glaube, Volkswirtschaften könnten und sollten immer weiter wachsen.

      Doch dieser Irrtum beruht auf einem anderen, der noch tiefer reicht und subtiler ist. Daß nahezu alle nachklassischen Ökonomen Boden unter die Kategorie Kapital subsumierten, lief darauf hinaus zu erklären, die Natur sei lediglich eine Teilmenge der menschlichen Wirtschaft – eine unendliche Anhäufung von Ressourcen, die sich in Reichtum verwandeln lassen. Es bedeutete weiter, daß natürliche Ressourcen immer durch eine andere Form von Kapital ersetzt werden konnten – durch Geld oder Technik.11 Tatsächlich existiert jedoch die menschliche Wirtschaft innerhalb der Natur und hängt vollkommen von der Natur ab, und für viele natürliche Ressourcen gibt es keinen realistischen Ersatz. Dieser fundamentale logische und philosophische Fehler im Zentrum der maßgeblichen modernen ökonomischen Denkschulen führte die Gesellschaft direkt dahin, wo sie heute steht: in die Ära von Klimawandel und Ressourcenerschöpfung. Das Festhalten an diesem Fehler hat zur Folge, daß die konventionellen ökonomischen Theorien – keynesianischer wie neoliberaler Spielart – vollkommen unfähig sind, auf die ökonomischen und ökologischen Bedrohungen zu reagieren, die im 21. Jahrhundert das Überleben der Zivilisation gefährden.

      Bei der Suche nach Unterstützung können wir uns den Ökonomen zuwenden, die sich mit ökologischen und biophysikalischen Fragen befassen – ihre Ideen werden wir in Kapitel 6 erörtern, von den Hohepriestern und Torwächtern des ökonomischen Mainstreams wurden sie vollkommen an den Rand gedrängt –, und bis zu einem gewissen Grad zwei ebenfalls marginalisierten Denkrichtungen, der Österreichischen Schule und dem Postkeynesianismus, deren Vertreter besonders gut waren bei der Vorhersage und Diagnose der rein finanziellen Aspekte der gegenwärtigen weltweiten Krise. Aber ihre Hilfe wird nicht in der Form kommen, wie viele es sich wünschen: als Rat, wie wir unsere Wirtschaft wieder in den »normalen« Zustand »gesunden« Wachstums zurückversetzen können. Auf die eine oder andere Weise wird unsere Wirtschaft schrumpfen müssen statt wachsen, entweder durch Planung und systematische Reform oder durch Kollaps und Krise.

       1.2ABSURDITÄTEN DER KONVENTIONELLEN ÖKONOMISCHEN THEORIE

      •Mainstream-Ökonomen berücksichtigen bei der Berechnung des Maßstabs für die wirtschaftliche Gesundheit eines Landes – des Bruttoinlandsprodukts (BIP) – nur Transaktionen in Geld. Wenn ein Land glückliche Familien hat, spiegelt sich das im BIP nicht wider, aber wenn dieses Land von einem Krieg oder einer Naturkatastrophe heimgesucht wird, werden die monetären Transaktionen steigen, und das BIP wird in die Höhe schießen. Das generelle Wohlergehen eines Landes anhand des BIP zu kalkulieren ist ungefähr so sinnvoll, als würde man die Qualität eines Musikstücks nur danach beurteilen,


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