Grenzenlos im Norden. Siv Stippekohl
Glaubenshaltung bei den nächsten Angehörigen beobachten durfte. In jenen drei harten Wochen der Ungewissheit, da wir alle gequält waren von Angst und Sorge, sind wir zusammengewachsen, liebe Familie Lemme. Wir haben voll mit ihnen gefühlt und unsere Hoffnung auf einen guten Ausgang gesetzt. Inzwischen haben wir innerlich umpolen und die grausame Wirklichkeit des tragischen Geschehens annehmen müssen. Das hat uns enorme Kräfte geraubt. Wir sind müde und matt geweint. Wir haben so viele Fragen, auf die man uns die Antworten schuldig bleibt.«
Ein wenig habe er sich gewundert, dass er später keinen Ärger bekommen hat. Vor der Beerdigung habe man gehört, die Kampfgruppen seien in Alarmbereitschaft. Als Kirchenvertreter habe man allerhand aussprechen dürfen, damals habe er an sich halten müssen, um das Wort Mörder nicht in den Mund zu nehmen. Denn niemand im Dorf habe geglaubt, dass Hans-Georg ertrunken ist. Vor der Beerdigung hat der Pfarrer Besuch bekommen, er sei gewarnt worden, er solle aufpassen, was er sagt.
Lange habe er in der Bibel nach einer passenden Stelle gesucht. Er findet schließlich die Worte, die für Familie Lemme am annehmbarsten sind, die damals ausdrücken, was alle denken. Inge Lemme nickt. Auf dem Grabstein von Hans-Georg steht ein Hinweis auf Psalm 57. Diesen verliest der Pfarrer bei der Beerdigung 1974:
»Ich liege mitten unter den Löwen, die da lauern, Menschen zu verschlingen. Ihre Zähne sind Spieß und Pfeil und ihre Zunge ist ein scharfes Schwert. Zeige deine Macht über den Himmel hin, Herr, und deine Herrlichkeit hoch über der Welt. Ein Netz legten sie meinen Schritten und beugten meine Seele. Sie bereiteten eine Grube für mich. Wach auf, meine Seele! Wach auf! Ich will das Morgenrot wecken, denn deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und deine Treue, so weit die Wolken gehen. Zeige deine Macht über den Himmel hin, Herr, und deine Herrlichkeit hoch über der Welt.«
Nach der Beerdigung, so erinnert sich Pfarrer Winter, sei ein Dorfbewohner zu ihm gekommen und habe gemeint: »Sie haben alles gesagt, was gesagt werden muss.«
Inge und Georg Lemme werden nach der Beerdigung ihres Kindes vorgeladen, sollen Auskunft geben, erhalten selbst jedoch keine weiteren Auskünfte. Sie bekommen eine Rechnung für den schäbigen Sarg und für die Leistungen des von der Staatssicherheit beauftragten Bestatters.
In Groß Breese ist schnell davon die Rede, Hans-Georg sei weder ertrunken noch erschossen worden, er sei von einem Boot der Grenztruppen überfahren worden. Bis zum Ende der DDR bleibt völlig unklar, was wirklich geschehen ist, viele Einzelheiten lassen sich wohl bis heute nicht mit letzter Sicherheit rekonstruieren. 1993 lesen die Lemmes ihre Stasiakte. Darin ist festgehalten, was am 19. August 1974 passiert ist. Um 22.50 Uhr sei ein Vorkommnis an Elbkilometer 472,2 in Lütkenwisch gemeldet worden. Um 22.35 Uhr habe ein Grenzverletzer sich nicht festnehmen lassen. Er sei durch die Elbe in Richtung Bundesrepublik geschwommen, er habe die Aufforderungen der Grenzposten an Land und der Besatzung des Grenzbootes »GS 197« umzukehren ignoriert, ebenso wie die abgefeuerten Warnschüsse. Offenbar hat das Grenzboot versucht, ihn in Richtung DDR-Ufer abzudrängen. »Tja, die haben ihn verfolgt«, erzählt Inge Lemme, »er ist dann immer wieder weggetaucht. Er ist ja vier Mal unter dem Boot durchgetaucht, das ist ja auch noch zu erzählen. Vier Mal unter dem Boot durchgetaucht, immer wieder weggetaucht. Und dann ist er immer irgendwo aufgetaucht. Und dann sind die wieder hinterher. Er hat richtig gekämpft, richtig gekämpft um sein Leben.« In einem Bericht der Grenztruppen heißt es dann: »Zur Verhinderung des Grenzdurchbruchs entschloss sich daraufhin der Bootsführer, den Grenzverletzer mit dem Boot zu überfahren. Unmittelbar vor der auf BRD-Territorium befindlichen Buhne wurde der Grenzverletzer mit dem Boot überrollt.«3 Danach sei er nicht wieder aufgetaucht. Wahrscheinlich, sagt Inge Lemme, sei ihr Sohn in die Schiffsschraube gekommen. Ob das wahr ist, oder ob er doch ertrunken ist, wird sich nicht mehr zweifelsfrei klären lassen. In einem Stasibericht ist nachzulesen, bei dem Grenzboot sei einen Tag später festgestellt worden, dass eine Antriebswelle der Schiffsschrauben verbogen war, »durch das Manöver«.4
1998 erfährt die Familie eher zufällig davon, dass der Bootsführer von damals sich wegen Totschlags vor dem Schweriner Landgericht zu verantworten hat. Inge Lemme tritt nicht als Nebenklägerin auf, aber sie fährt zu dem Prozess, viele Verwandte, viele Freunde, viele Dorfbewohner begleiten sie. Über die Anteilnahme wundert sich sogar der Richter. Die Bootsbesatzung wird in der Verhandlung befragt, der Grenzkommandeur, die Grenzposten an Land, Gerichtsmediziner. Viele Einzelheiten kommen ans Licht. Beispielsweise erinnern sich einige Zeugen daran, dass die Elbe hell erleuchtet war, an den Lärm, an die Schüsse.
Es ist überliefert, erzählt sie, dass ihr Sohn noch mit der Besatzung des Grenzbootes gesprochen hat, sie hätten gesagt, sie müssten schießen, er habe gerufen: »Das könnt ihr doch nicht machen!« Diesen Satz kann Inge Lemme nicht vergessen, »das könnt ihr doch nicht machen! Er hat noch gesprochen mit dem Bootsführer!« 24 Jahre später, im Gerichtssaal in Schwerin, spricht der angeklagte Bootsführer nicht mit Inge Lemme. »Im Gegenteil, er hat mich keines Blickes gewürdigt«, erinnert sie sich, »er hat sich auch nicht entschuldigt oder Reue bekannt. Oder dass er gesagt hat, dass ihm das leidtut. Nichts.« Drei Männer haben in dieser Augustnacht 1974 auf dem Grenzboot Dienst getan, sie alle können sich in der Verhandlung an kaum etwas erinnern. Der Bootsführer, der 1998 als Zugführer der Rostocker Berufsfeuerwehr arbeitet, wird in dem Prozess freigesprochen. »Unverständlich ist das«, sagt Inge Lemme 35 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes, 20 Jahre nach dem Fall der Mauer.
Wie viele Menschen an der innerdeutschen Grenze ums Leben kamen, ist auch zu diesem Zeitpunkt noch umstritten. Das private Mauermuseum in Berlin geht von rund 1300 Toten aus. Andere halten diese Zahl für überhöht. Als relativ gesichert gilt, dass mindestens 916 Menschen an der Grenze ihr Leben verloren, darunter mehr als 40 Kinder und Jugendliche. Noch am 30. Oktober 1989 wurde ein DDR-Bürger tot aus der Oder geborgen, er hatte versucht, den Grenzfluss zu überwinden.5
Eine Elbfähre verbindet heute Lütkenwisch, den Ort, in dem Hans-Georg Lemme ins Wasser gegangen ist, mit Schnackenburg am anderen Elbufer in Niedersachsen. In Schnackenburg erinnert ein Grenzlandmuseum an die Jahre der Teilung. Auf einer Tafel stehen die Namen derjenigen, die bei dem Versuch, über die Elbe zu fliehen, ertranken, erfroren oder getötet wurden. In Lütkenwisch führt der Elberadweg an einem Gedenkstein vorbei, am Fuße des Elbdeiches erinnert ein Feldstein mit einer Schiffsschraube an die Toten. Der Gedenkstein wurde am 19. August 1990 gesetzt, am Todestag von Hans-Georg Lemme. Seine Mutter ist froh, dass auf diese Weise an ihren Sohn und an das unmenschliche Grenzregime erinnert wird. Zwanzig Jahre nach dem Ende dieses Grenzregimes wirkt sie nachdenklich und sagt: »Aber viele denken auch anders. Viele denken auch heute noch anders. War ja schließlich verboten, hat eine Frau mal zu mir gesagt, was macht er auch so etwas? Das war ja verboten, dahin zu gehen ...«
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