Grenzenlos im Norden. Siv Stippekohl
gekostet, ein kleines Vermögen. Sie grinst, das habe sie ihren Eltern natürlich nicht erzählt. Was sie vermisst habe, das sei allerdings Musik aus dem Westen gewesen. An Schallplatten und Bücher aus dem Westen sei sie nicht herangekommen.
Ihr Studium in Aschersleben empfindet sie damals als »blanke Rotlichtbestrahlung«. Sie erinnert sich daran, wie eine Studentin rausfliegt und ihren Abschluss nicht machen kann, weil sie einen Nachmittag gestaltet und dafür eine Jugendgruppe der evangelischen Kirche in das Institut eingeladen hat. Außerdem, sagt sie, habe man nicht ganz offen reden können. Die Angst, der jeweils andere könne für die Stasi arbeiten, sei oft dagewesen.
Vor dem Studium hat sie erste Erfahrungen mit dem MfS, dem Ministerium für Staatssicherheit, gesammelt. Die gelernte Hotelkauffrau arbeitet übergangsweise im Hotel Stadt Schwerin als »Ausbildungsleiter der Berufsausbildung«. Zwei nette Herren mittleren Alters seien damals in ihr Büro gekommen und hätten sie um ihre inoffizielle Mitarbeit gebeten. Ein Zettel sei ihr vorgelegt worden, den habe sie unterschreiben sollen. Das habe sie nicht getan. Ein anderes Mal, erinnert sie sich, habe ein Cousin ihres Vaters aus Pforzheim die Familie besucht, er hat auch eine Zeit lang in Südafrika gelebt. Damals ist sie begeistert, der Verwandte mit Afrikaerfahrung ist für sie so etwas wie ein Abgesandter aus der großen weiten Welt. Mit dem Besuch aus dem Westen macht Familie Schröder Ausflüge an die Ostsee, nach Warnemünde, nach Wismar. Christiane wird später im Hotel Stadt Schwerin unmissverständlich klargemacht, dass man über diese Ausflüge bestens informiert ist. Furchtbar habe sie das damals gefunden, höchst »unangenehm« sei der Anwerbeversuch für sie gewesen.
Ihr Vater erinnert sich daran, dass er 1972, als er noch im Volkseigenen Rechenbetrieb Binnenhandel in Schwerin arbeitete, in die Kaderabteilung gerufen und ihm ein verlockendes Angebot unterbreitet wurde. Er solle mit seiner Familie als Trainer für die Programmierung und Bedienung von Datenverarbeitungstechnik des Kombinates Robotron ins Ausland gehen dürfen, genauer: nach Mexiko. Da habe man nicht lange überlegt, erzählt er, sofort habe er ja gesagt. Dann hörte er eine Weile nichts mehr von der Angelegenheit, bis er eines Tages zu einem Gespräch gebeten wurde, zu einem Anwerbungsgespräch. Er soll im Ausland für die Stasi arbeiten. Er sei bestürzt gewesen, erinnert er sich, weil er schnell merkt, dass die Stasimitarbeiter in dem Zimmer sehr, sehr viel über ihn wissen. Zum Beispiel habe der hauptamtliche Stasimitarbeiter gewusst, dass im Hause Schröder kein DDR-Fernsehen gesehen, kein DDR-Radio gehört wird. Jürgen Schröder erinnert sich in etwa so an das Gespräch: »Der sagte dann: Sie hören doch nur NDR und sie gucken auch nur das ZDF. Im Übrigen, warum machen Sie Ihrer Frau nicht die Freude und bauen nun endlich mal eine ARD-Antenne auf das Dach? Ihre Frau bekniet sie doch schon laufend. Und ich hab dann darauf geantwortet: Ja, das hätte ich ja längst getan, aber oben auf dem Dach ist kein freier Bügel mehr für eine Antenne. Und so leben wir eben mit dem ZDF. Ich habe versucht, das Ganze ein wenig ins Lächerliche zu ziehen. Das Gespräch wurde dann immer, immer bedrohlicher. Immer wieder kam der Hinweis, es müsse doch eine Ehre sein, als Kundschafter für die DDR zu arbeiten, wenn ich im Ausland wäre. Und als ich dann sagte, das würde ich niemals tun und ich würde auch niemals Spitzel sein, da regte man sich über diesen Begriff Spitzel auf.«
Später weiß Jürgen Schröder nicht, woher er damals den Mut genommen hat. Nach dem ersten fehlgeschlagenen Werbungsversuch soll er sich das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Nach zwei Tagen kommt es zu einem zweiten Gespräch. Wieder lehnt er ab, sehr kategorisch, sagt er heute und erinnert sich, »der Abschlusssatz dieses Gespräches war: Schröder, merken sie sich eins, wenn wir wollen, dann lassen wir Sie Steine klopfen. Und ich habe gesagt, da Sie mich ja so gut kennen, müssten Sie eigentlich wissen: Das dauert ungefähr drei Wochen und dann mache ich sehr gute Steine. Damit war das Gespräch beendet. Und ich habe nie wieder etwas von den Herren gehört. Aber von Mexiko habe ich dann auch nichts mehr gehört.«
So hatte der Vater seine Erfahrung mit der Stasi, und Tochter Christiane und ihr Freund Stephan ebenfalls, denn beide hatten sich geweigert, mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Das ist in etwa die Situation 1989, als die Familie erfährt, dass die Tochter und der Schwiegersohn in spe das Land verlassen wollen, koste es, was es wolle. Euphorisch habe sie sich damals im Frühjahr 1989 gefühlt, erinnert sich die Tochter, und gleichzeitig ängstlich, ein innerer Aufruhr sei das gewesen. Ein befreundeter Anwalt aus dem Westen rät dem jungen Liebespaar zu heiraten, damit im Falle einer Festnahme während der Flucht wenigstens beide zusammen aus dem Gefängnis freigekauft werden können. Es wird geheiratet, und die Hochzeit im Frühsommer erfüllt noch einen ganz anderen Zweck.
Am 2. Mai 1989 hat sich ein Schlupfloch aufgetan. Ungarische Grenzsoldaten beginnen an diesem Tag, den Stacheldrahtzaun zwischen Ungarn und Österreich abzubauen. Die ungarische Regierung kündigt an, fortan nicht mehr auf Flüchtlinge schießen zu lassen. Der Plan des Hochzeitspaares ist es, über Ungarn in den Westen zu kommen. Christiane Schröder und ihr Stephan gehen davon aus, dass eine Hochzeitsreise die beste Gelegenheit ist, ihren Plan umzusetzen, schließlich bekommt längst nicht jeder ein Visum für eine Ungarn-Reise.
Zur Hochzeit schenkt der Bruder des Bräutigams ein schweres, symbolisches Präsent, einen riesigen Seitenschneider. Er sieht ungefähr so aus wie das Gerät, mit dem die ungarischen Grenzer im Mai damit begonnen haben, den eisernen Vorhang durchzuschneiden. Alles wird vorbereitet. Öfters setzen sich die Eltern mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn ins Auto und fahren raus ins Grüne, zwischen dem Rauschen der Bäume und Vogelgezwitscher wird dann bei Spaziergängen geplant, was zu planen ist. Beispielsweise werden Zeugnisse und Westgeld kleingefaltet und in Hosen- und Rocksäume eingenäht.
Im Juli geht es los. Die Eltern verabschieden die Kinder zur Hochzeitsreise nach Ungarn und wissen, es wird wahrscheinlich ein Abschied auf lange Zeit. Sie irren.
Wie viele andere DDR-Bürger haben damals die Schröders das Grenzregime der Ungarn unterschätzt. Auch wenn die Grenzsperranlagen nach und nach abgebaut werden, bleibt die sogenannte grüne Grenze nach wie vor bewacht. Wie oft sie es versucht haben, von Ungarn nach Österreich zu kommen? Heute weiß die Tochter es gar nicht mehr so genau, dreimal, viermal, vielleicht sogar fünfmal. »Vielleicht haben wir uns auch ziemlich dämlich angestellt«, sagt sie rückblickend, es hat jedenfalls nicht geklappt. Zwischendurch sucht das Paar Zuflucht in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest. Dort campieren im Sommer 1989 zunächst rund 200 DDR-Bürger. Aber der Arm der Stasi reicht auch bis hierhin, das Paar wird wiederholt fotografiert, fühlt sich beobachtet. Die beiden versuchen noch einmal, über die Grenze zu entkommen, werden aber im Wald von Grenzsoldaten erwischt. Einen ganzen Tag lang verbringen die beiden auf einer Wache. Ihnen wird erklärt, dass sie in Ungarn nicht länger erwünscht sind. Sie geben auf und fahren zurück in die DDR. Enttäuscht und am Ende ihrer Kräfte sei sie damals gewesen, erzählt Christiane, weniger körperlich als vielmehr moralisch. Sie wollte bei den Eltern erst einmal wieder »die Batterien aufladen«. Dann aber erhält ihr Mann einen Musterungsbefehl. Für Jürgen Schröder ist damals klar, dass keine Zeit zu verlieren ist, denn wenn die Musterung zum Wehrdienst in der NVA erst einmal erfolgt ist, dann darf kein Ausreiseantrag mehr gestellt werden. Also packen die Kinder erneut ihre Sachen.
Heimlich und für keinen sichtbar verstauen sie die Taschen im Auto vom Vater und gehen spazieren. Jürgen Schröder sammelt das Paar dann ein und fährt es nach Ludwigslust. Dort setzt er seine Tochter und seinen Schwiegersohn in den Zug, das Ziel der Reise ist diesmal Prag. Es gelingt ihnen, dort die bundesdeutsche Botschaft zu erreichen. Doch sie haben Unglück im Glück. Stephan bekommt furchtbare Schmerzen, er leidet an einer Nierenkolik. In der bundesdeutschen Botschaft verhandeln damals die beiden Anwälte Wolfgang Vogel und Gregor Gysi über das Schicksal der DDR-Flüchtlinge. Die Fernsehbilder von überwiegend jungen DDR-Flüchtlingen, die über den Zaun der Prager Botschaft klettern, gehen im Sommer 1989 um die Welt. Diese Bilder beschädigen das Image der DDR. Die beiden Anwälte versuchen, die Flüchtlinge zum Verlassen der Botschaft zu überreden. Sie sichern den Ausborns und anderen Flüchtlingen zu, dafür zu sorgen, dass sie ausreisen dürfen, unter der Bedingung, dass sie zunächst in die DDR zurückkehren. Das Ehepaar entscheidet sich wohl oder übel, den Unterhändlern zu vertrauen, aber die Angst fährt mit. Zum zweiten Mal kehren sie unverrichteter Dinge heim, der Weg über Ungarn führte nicht raus, der über die Tschechoslowakei zunächst nur wieder an den Ausgangspunkt zurück. Das junge Paar stellt, wie ihnen in der Prager Botschaft aufgetragen wurde,