Grenzenlos im Norden. Siv Stippekohl
auf Russisch hätte der das sagen dürfen, stattdessen sagt der Offizier, »okay. Okay, sie können passieren.« Er erinnert sich ganz genau, Punkt 11.01 Uhr sei es da gewesen. Und dann, sagt er, dann kam das, was ihm auch zwanzig Jahre später noch eine Gänsehaut verursacht: »Wir acht Männer haben alle geheult. Wir haben uns umarmt und haben geheult.« Im Erzählen wird seine Stimme plötzlich brüchig, er kämpft mit den Tränen, als er weiterspricht und schnell seine Fassung wiedergewinnt. »Und ich bin denn losgefahren und habe zu den Jungs gesagt: Hört mal zu, da unten links, da ist eine neue DDR-Fahne drin, eine Flagge fürs Schiff hinten, die alte ist schon so verfranst, macht da mal eine neue Flagge ran. Und vorne rechts, sagte ich, da steht was zu trinken. Und dann haben wir ein Bier und einen Schnaps getrunken, auf unsere Freiheit. Und um 11 Uhr 11 haben wir noch einen getrunken auf den 11.11.« Als sich alle wieder gesammelt haben, verhängt Mitschard ein Alkoholverbot an Bord. Schließlich will die Truppe im Westen nicht sternhagelvoll eintreffen und einen schlechten Eindruck hinterlassen.
Die Latovia tuckert weiter Richtung Westen, immer dem Kompass nach. Als der Kapitän bereits befürchtet, die Orientierung verloren zu haben, taucht ein Schiff auf, ein Segelschiff denken die Angler zunächst, denn es ist weiß und hat zwei Masten. Es ist aber ein Fischerboot. »Ich kannte ja überhaupt kein weißes Fischerboot, bei uns in der DDR waren alle Fischerboote grau«, erzählt Siegfried Mitschard. Auch die Besatzung des westdeutschen Fischerbootes staunt nicht schlecht, als sie die DDR-Flagge der Latovia sieht. »So einen Lappen haben wir ja noch nie gesehen«, heißt es, und das deutsch-deutsche Zusammentreffen auf der Ostsee soll erst einmal begossen werden. Aber der Kapitän der Latovia winkt dankend ab und fragt lieber nach dem Weg. Welcher Weg? Zu irgendeinem schönen Hafen in der Lübecker Bucht. Neustadt in Holstein schlagen die Fischer vor und erklären die Route, steuerbord vorbei am Wetterturm, vorbei an der Untiefentonne von Perlzerhaken, und schon sei das Neustädter Fahrwasser nicht weit. Die Wegbeschreibung ist hilfreich.
Kurz vor Neustadt braust eine Motorjacht heran, »so richtig mit weißer Bugwelle«, erinnert er sich, »der wollte vorbei und hat dann unsere DDR-Flagge gesehen, hat ausgekuppelt und plumpste so richtig ins Wasser.« Ob die Flagge dahinten richtig sei, will der verdutzte Bootsführer der Jacht wissen. Erfreut wird ein Tablett mit Sektgläsern gereicht. Alkoholverbot hin, Alkoholverbot her, da müssen Siegfried Mitschard und seine Angler mit anstoßen. Die Motorjacht begleitet das DDR-Boot bis nach Neustadt, vielmehr: Das westdeutsche Schiff schleppt das etwas altersschwache ostdeutsche Schiff bis kurz vor die Hafeneinfahrt. Dann wirft der Bootsführer die Leine zu Mitschard hinüber und sagt: »Hier kannst du alleine reinfahren, den Triumph gönne ich dir!« Die DDR-Bootsleute sind nicht darauf gefasst, dass sie in Neustadt bereits erwartet werden. Links und rechts der Hafeneinfahrt stehen und rennen Menschen und winken mit ihren Jacken und Mützen. Bis heute weiß niemand, wer vielleicht über Funk die Ankunft des »Ostbootes« angekündigt hat.
Beim Festmachen der Latovia spendet die Menge Applaus. Noch zwanzig Jahre später wirkt Siegfried Mitschard etwas verlegen, als er sagt: »Und dann ging das wieder los. Das Geheule und das Umarmen. Wir haben das gar nicht erwartet, dass wir so herzlich empfangen werden. Jedem haben sie ein bisschen Geld zugestopft und Sachen gesagt wie: Macht es gut Jungs. Mensch, schön, dass das endlich alles vorbei ist. Endlich ist der Spuk vorbei. So wurde viel diskutiert und viel gesprochen. Viele Tränen liefen.« Den ganze Tag, erinnert er sich, seien sie in Neustadt »durchgereicht« worden. Die ostdeutschen Angler sind die Sensation. Auch die Polizei schaut vorbei und ermahnt die Besatzung, ja nicht zu vergessen, das Begrüßungsgeld abzuholen. Am Abend sind alle völlig erledigt. Weit nach Mitternacht legen sie sich auf der Latovia schlafen.
Am nächsten Morgen kommt Gerd Bollmann vom Neustädter Seglerverein vorbei und lädt die Besatzung zum Frühstück in die Gaststätte ein. Den Kaffee, erinnert er sich, spendiert damals die Wirtin. Ein Lübecker Architekt will die Ostdeutschen unbedingt mit seinem Motorboot in die DDR begleiten, er möchte Wismar sehen. Der Bootsführer klärt den Mann auf. Er könne nicht einfach mitfahren, die würden ihn in der DDR einsperren. Die Sportbootsfreunde greifen in die Trickkiste, sie würden einfach erzählen, die Latovia habe einen Getriebeschaden und müsse bis Wismar geschleppt werden. Eine vorsichtige Anfrage über UKW-Seefunk bei den DDR-Behörden ergibt immerhin, dass der Lübecker die Latovia bis zur Grenze schleppen darf, dort würde das Schiff übernommen werden. Als beide Sportboote die Grenztonne zwischen Ost und West erreichen, ist weit und breit kein DDR-Schiff zu sehen. Siegfried Mitschard meint, sie sollten lieber kein Risiko eingehen, er würde allein weiterfahren und bei Nachfragen einfach erzählen, der Schaden hätte behoben werden können.
Gesagt, getan, man verabschiedet sich und schippert weiter bis zum Ausgangspunkt der Reise, bis zur Wracktonne in der Wismarer Bucht. Dort wird die Latovia bereits erwartet, von einem Schiff der Grenzbrigade Küste und einem sogenannten »grauen Wolf«, einem Boot der Wasserschutzpolizei Wismar. Der Latovia wird ein Zeichen zum Beidrehen gegeben. Siegfried Mitschard zögert, mit den Grenzern, sagt er, sei ja nie »gut Kirschenkosten« gewesen. Letztendlich steuert er auf das Polizeiboot zu und hofft, vielleicht auf bekannte Polizisten zu treffen. Er hat Glück. Er kennt den Bootsführer. Nachdem er festgemacht hat, sagt der zu ihm, »na, dann komm mal rauf«. »Dann bin ich rauf auf die Brücke, und er sagt zu mir: Du, ich soll dich nach Wismar bringen. Ich sage: Loggi, was wollt ihr von mir? Dann hau ich lieber gleich wieder ab. Ich konnte mit denen so reden, vorausgesetzt, man kannte sie, dann waren die gar nicht solche Bullen, wie manche immer gedacht haben. Mensch, sagt er, Siggi, ich muss dich hinbringen. Und dann sagt einer von den Polizisten: Was sollen sie dir schon anhaben? Ganz Deutschland ist drüben im Westen!«
Siegfried Mitschard protestiert trotzdem und hat allerhand Argumente vorzuweisen: Fahrten in der Dunkelheit seien ihm verboten, geschleppt werden will er auch nicht, ohnehin fühle er sich wie festgenommen, auch wenn die Polizisten beteuern, dass dies nicht der Fall sei. Man einigt sich schlussendlich. Das Polizeiboot geleitet die Latovia nach Wismar, und zwar in gebührendem Abstand, so dass das Ganze nicht nach einer Festnahme aussieht. Die Fahrtzeit wird von der Besatzung weidlich genutzt. Bevor der Zoll das Schiff im Alten Hafen von Wismar auseinandernimmt, müssen allerhand Mitbringsel aus dem Westen verschwinden. Eher unproblematisch sind Blumen, zwei Säcke voller Kleidung und jede Menge Getränke, Bier, Cola, Rum. Aber da sind dann noch die Geschenke, von denen die Männer ziemlich sicher annehmen müssen, dass sie ihnen sofort weggenommen werden: Pornohefte, Pornofilme, Männerkrams eben. Vorsichtig wird in der Achterkabine eine Deckenplatte abgeschraubt, dahinter wird die wertvolle und verbotene Fracht versteckt.
In Wismar angekommen geht zunächst eine Passkontrolleinheit an Bord. Es wird durchgezählt, die Ausweise werden kontrolliert, das Ergebnis: alle sind wieder da. Der Beamte lässt seinen Blick über die nicht versteckte Westware streifen, »Mensch«, entfährt es ihm, »wo waren Sie denn?« Als Siegfried Mitschard vom Ausflug nach Neustadt erzählt, murmelt der Mann: »Find ich gut, find ich richtig gut.« Siegfried Mitschard ermuntert ihn, sich etwas zu trinken zu nehmen, ein Bier könne er gut und gerne auch in der Hosentasche mitnehmen, der Beamte bleibt standhaft. Ein junger Zöllner, der an Bord kommt, ist ebenfalls beeindruckt. »Oh«, ist sein Kommentar mit Blick auf den Getränkevorrat, »sie hätten es ja noch ein paar Tage länger ausgehalten.« Er erkundigt sich genau, wie die Fahrt war, ob es weit bis nach Neustadt sei.
Am nächsten Tag darf Siegfried Mitschard mit seiner Latovia weiter nach Timmendorf fahren. Ein kleines Nachspiel hat der Ausflug in den Westen dann doch noch. Auf seiner Arbeitsstelle bekommt er Bescheid, er möge sich mit seinem Bordbuch bei der Wasserschutzpolizei einfinden. Siedend heiß fällt ihm ein, dass die Latovia keine Genehmigung für Küstenfahrten besitzt. Im Bordbuch ist nur ein Stempel für die Angelgebiete vor Wismar. Er ist sauer, denn er ist überzeugt, »der Chef von der Wasserschutzpolizei, der wollte mir da ein Ding drehen«. Zu diesem Zeitpunkt hat er längst einen zweiten Ausflug nach Neustadt geplant, zusammen mit Bekannten aus dem Segelverein. Daraus wird nichts, wenn es nun Ärger mit dem Bordbuch gibt. Das Problem wird kurzerhand gelöst. Der Vorsitzende des Segelvereins ist damals auch in der Kommission zur Abnahme von Schiffen, und der drückt ihm einfach nachträglich einen Stempel für Küstenfahrten in sein Bordbuch.
Zwanzig Jahre später ist sich Siegfried Mitschard ziemlich sicher, dass die Latovia das erste Sportboot der DDR war, das nach der Grenzöffnung in den Westen schipperte. Vermutlich hat er mit dieser Annahme recht.
Erst