Rulantica (Bd. 1). Michaela Hanauer

Rulantica (Bd. 1) - Michaela Hanauer


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sie schlicht.

      Es geht los, mindestens so heftig wie der Feuerberg explodiert Kailani: »Es ist schön? Mehr fällt dir dazu nicht ein? Dafür gehst du dieses Risiko ein?«

      »Aber ich habe mich doch nur ein bisschen umgesehen«, sagt Aquina.

      »Wozu? Du hast hier alles, was du brauchst!«

      »Ich will nicht eingesperrt sein und auch noch etwas anderes erleben als Singen und Muschelmosaik!«

      »Und für dein persönliches Vergnügen glaubst du, du dürftest unser aller Leben aufs Spiel setzen?«

      »Aber ich war nicht einmal in der Nähe der Quelle und habe nicht in ihr gebadet«, verteidigt sich Aquina. »Das würde ich auch nicht, das weißt du!«

      »Weiß ich das?«, tobt ihre Mutter weiter. »Kann ich dir überhaupt vertrauen, wenn du dich über alle unsere Gesetze hinwegsetzt?«

      Der Satz trifft Aquina mehr, als sie zugeben will. Es ist schreiend ungerecht. Entweder muss sie Regeln beachten, die aus ihrer Sicht überhaupt keinen Sinn ergeben, oder sie muss mit der bitteren Enttäuschung leben, die sich im Gesicht ihrer Mutter mehr als deutlich abzeichnet.

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      »Wieso kann ich nicht selbst entscheiden, was richtig für mich ist?«, gibt Aquina fast verzweifelt zurück. Ihre Mutter will sie einfach nicht verstehen.

      »Weil du mit einer falschen Entscheidung nicht nur dein Leben riskierst, sondern den Untergang der ganzen Insel. Du kennst unseren Fluch!«

      Und ob Aquina den kennt! Seit sie sich erinnern kann, hört sie die Geschichte von Loki, dem listigen Gott, der die Insel Rulantica mit der magischen Quelle erschaffen hat, um die Menschen in Versuchung zu führen. Denn wer in der Quelle badet, erlangt Unsterblichkeit, obwohl die eigentlich den Göttern vorbehalten ist. Aber als Viken, der Anführer der Wikinger, zu denen auch ihre Mutter Kailani gehörte, sich so schwer verletzte, dass er beinahe gestorben wäre, schlugen die Menschen alle Bedenken in den Wind, um ihn zu retten. Er überlebte und ließ seinen Stamm in der Quelle baden.

      Doch leider stieg die heilende Magie einigen zu Kopf, sie hielten sich selbst für Götter und verhöhnten ihre bisherigen Götter. Genau das wollte Loki erreichen. Besonders Odin, der Göttervater, war erzürnt über die Anmaßung der Menschen. Er eilte von Asgard ins Menschenland Midgard und hatte eigentlich vor, die Insel Rulantica mit Mann und Maus zu vernichten.

      »Wir verdanken es allein Odins Frau Frigg, dass wir überhaupt noch leben«, wiederholt Kailani auch jetzt die alte Leier.

      »Als ob ich das nicht wüsste«, platzt es aus Aquina heraus. »Das habe ich schon tausendmal gehört: Frigg erkannte, dass alles eigentlich Lokis Schuld war, und bat Odin, uns zu vergeben. Der ließ dich und deinen Stamm daraufhin am Leben und verwandelte euch nur in Meermenschen. Dann befahl er euch, die Quelle zu bewachen und die Dreimeilengrenze rund um Rulantica nicht zu verlassen. Bla, bla, bla … ach ja und Svalgur hat er als Aufpasser dagelassen …»

      »So ist es!«, nickt Kailani, immer noch mit vor Zorn funkelnden Augen. »Und nichts davon ist Blabla!«

      »Aber die Monsterschlange liegt doch seit langer Zeit im Eistempel in der Eisstadt und regt sich nicht mehr!«

      »Wenn du glaubst, dass Svalgur deshalb nicht mehr gefährlich ist, dann irrst du dich! Das Zeitalter der Götter mag inzwischen vorüber sein, aber er erfüllt seine Aufgabe bis in alle Ewigkeit«, beharrt Kailani. »In dem Punkt bin ich mir sogar mit Exena einig. Beim geringsten Fehltritt wird Svalgur erwachen und alles und jeden verschlingen, daran besteht kein Zweifel!«

      »Selbst wenn du recht hast, aber warum darf ich deshalb nicht nach oben? Ich will doch nur ein bisschen in der Sonne baden!«, hält Aquina dagegen.

      Kailani schnaubt: »Heute ist es die Sonne, morgen ist es ein Apfel und übermorgen eben doch die Quelle. Halt dich fern, mein Kind, oder es wird böse enden!«

      »Aber die blöde Unsterblichkeit interessiert mich überhaupt nicht!«, beharrt Aquina. »Das ist doch bloß was für euch Erwachsene!«

      »Die Quelle ist unser aller Schicksal!«, donnert Kailani. »Du lässt mir keine Wahl! Solange du das nicht begreifst, hast du Grottenarrest, haben wir uns verstanden?«

      Aquina lässt die Kinnlade nach unten klappen. »Das kannst du nicht, das darfst du nicht …«

      »Das ist sogar meine Pflicht«, erklärt Kailani. »Ich bin nicht nur deine Mutter, sondern verantwortlich für alle Sirenen und du bringst dich und uns in Gefahr! Also wirst du außer zum Unterricht den Muschelpalast nicht mehr verlassen!«

      Wie vom Blitz getroffen, bleibt Aquina in ihrem Zimmer zurück. Grottenarrest. Das Wort hämmert in ihrem Kopf und legt sich wie ein unsichtbarer Würgegriff um ihren Hals. Grottenarrest, und das auf unbestimmte Zeit – das macht ihre Tage noch langweiliger und kleiner. Natürlich weiß sie, dass die Meerkinder nicht nach oben dürfen. Aber sie hätte nie im Leben damit gerechnet, dass ihre Mutter sie dafür tatsächlich bestrafen würde. Sie würde doch niemals etwas tun, das alle gefährdet. Wie kann ihre Mutter ihr derart misstrauen? Aus Wut und Verzweiflung kommen Aquina die Tränen. Das Meerwasser um sie herum spült sie zwar sofort weg, trotzdem brennen sie heiß in ihren Augen. Sie lässt sich auf ihre Schlafstelle plumpsen. Was jetzt? Tagein, tagaus ihren Gesang und die Wassermagie üben? Das würde ihrer Mutter und Skyrn so passen! Immer schön brav und angepasst, bloß nichts anders machen, als die Sirenen es seit Jahrtausenden halten. Lieb und nett und stets zum Wohl der Meermenschen. Die braunen Kerne schwimmen noch immer über ihr durch das Zimmer. Diese Verräter!

      »Vatt Galdur!«, schleudert Aquina ihnen böse und ohne lange zu überlegen hinterher. Ein Wirbel erfasst die Kerne und schwemmt sie aus ihrem Blickfeld in die Ecke.

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       DAS GEHEIMNIS IM KELPWALD

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      Aquina hatte angenommen, dass sie wenigstens selbstständig in die Schule schwimmen dürfte, aber sie hatte sich geirrt. Am nächsten Tag herrscht krampfhaftes Schweigen bei der Morgenmahlzeit. Aquina kaut an ihrem Algenmüsli und schielt zu ihrem Vater Bror. Er fängt ihren Blick auf und zuckt bloß mit den Schultern, schüttelt leicht mit dem Kopf. Alles klar. Er hat also bereits versucht, mit ihrer Mutter zu reden, hat aber offenbar auf Granit gebissen. Damit ist Aquinas letzte Hoffnung, dem Grottenarrest zu entkommen, dahin. Kaum hat sie den letzten Bissen heruntergewürgt, erhebt Kailani sich.

      »Ich begleite dich!«

      »Oh, nein, bitte, ich bin doch kein Meerbaby mehr!«

      »Aber du benimmst dich so, deshalb werde ich sichergehen, dass du dich an meine Anweisungen hältst!«

      Aquina fühlt sich wie ein Fisch an der Angel, als sie hinter Kailani herpaddelt, je näher sie der Korallenbank kommen, desto übler wird ihr.

      Alle Meerkinder springen von den Bänken auf, um einen Blick auf ihre Anführerin zu erhaschen, die Lehrer inklusive Skyrn schwimmen im Spalier, um sie gebührend zu begrüßen. Aquina würde am liebsten im Boden versinken. Manati eilt ihnen entgegen.

      »Kailani, welche Ehre!« Sie wirft einen raschen Seitenblick auf Skyrn. »Was können wir für euch tun?«

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      Aquina betrachtet ihre Flossenspitze. Manati glaubt offensichtlich, ihre Mutter würde Skyrn wegen des Vorfalls am Vortag zur Rechenschaft ziehen wollen. Stattdessen werden gleich alle erfahren, warum sie wirklich wie ein Baby zum Unterricht geschleift wird. Zwar spricht Kailani nicht besonders laut, trotzdem kann jeder auf der Korallenbank ihre Worte verstehen. »Aquina hat bis auf Weiteres nur die


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