Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen


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Den toten Klängen. Am schönsten war das Unvollendete. Es war leichter, so zu denken, als etwas darzubieten. Vor allem jetzt, da so viel auf dem Spiel stand.

      Er hörte, wie Isac die Treppe im Flur herunterkam. Seine Schritte wurden immer zögerlicher, je mehr er sich näherte. Das bedeutete, dass er Neuigkeiten hatte, von denen er nicht genau wusste, wie er sie überbringen sollte. Ein schlechtes Zeichen, für sie beide. Graal blieb über das Klavier gebeugt sitzen.

      Isac öffnete die Tür und trat ein. »Sie ist es. Da gibt es keinen Zweifel«, sagte er mit gespieltem Optimismus.

      Graal starrte auf seine Krallen. »Weißt du, was Chopin zu mir sagte, bevor er starb, Isac?«

      Isac ging zum Barschrank. »Ach, ist heute wieder einer von diesen Tagen?«, murmelte er.

      Graal ignorierte ihn. »Er sagte, ich hätte zum Üben die Ewigkeit vor mir, würde aber trotzdem kein so guter Musiker wie er werden. Nicht wegen der Krallen, sondern weil mir die Angst vor dem Tod fehle. Was meinst du, Isac? Ist das der Grund, warum sich mein Volk seit Tausenden von Jahren nicht verändert hat? Leben wir zu lange, um etwas von Wert zu schaffen?«

      Isac schnaubte. »Ganz offensichtlich ist es genau umgekehrt«, antwortete er. »Man hat unbegrenzte Möglichkeiten, das zu tun und zu lassen, was man will, wenn man keine Angst zu haben braucht, dass einem die Zeit davonläuft.«

      Graal richtete sich auf. »Ja, das musst du wohl fast sagen, du, der du jetzt tot wärst, wenn ich dich nicht genommen hätte.«

      Er ließ den Wörtern etwas Zeit, damit sie sacken konnten, bevor er weitersprach: »Aber du hast recht. Bei allem, was die Menschen tun, geht es um ewiges Leben. Die Kunst ist eine Suche nach der Unsterblichkeit. Die Frage ist nur, was sie davon haben. Was also hast du erreicht, mein Freund, was du nicht erreicht hättest, wenn du sterblich wärest? Wie viel bedeutender ist deine Existenz heute? Wie viel mehr hast du zustande gebracht?«

      Isac schenkte sich ein Glas Gin ein und goss einen bescheidenen Schluck Tonic dazu. »Weiß ich nicht«, antwortete er, setzte sich aufs Sofa und legte die Füße auf den Tisch. »Aber ich habe eine Ewigkeit lang Zeit, um das herauszufinden.« Er grinste.

      Graal schaute ihn an. Er hatte Isac seit dreißig Jahren. Die Zeit war nicht der Rede wert, aber es kam ihm schon lange vor. Isac würde nicht bleiben. Vielleicht wusste er das schon. Vielleicht war das der Grund, warum er frecher wurde. Ein Versuch, sich zu erneuern, sich interessant zu machen. Er war über fünfzig gewesen, als Graal ihn genommen hatte. Einen witzigen und intelligenten Mann. Britisch bis in die Fingerspitzen. Doch in letzter Zeit hatte er angefangen, Hemden in grellen Farben mit zu langen Kragenecken zu tragen. Dadurch bekam er Ähnlichkeit mit einem abgehalfterten Popstar. Sein Haar war blond und hing ihm über die Ohren. Mit einem Mittelscheitel. Das half keineswegs.

      War die Midlife-Crisis bei den Menschen vielleicht genetisch kodiert? Wurde man davon befallen, ganz gleich, ob man sterben würde oder nicht?

      Graal stand auf. Isac wurde unruhig und nahm die Füße vom Tisch.

      »Das ist nicht deine Schuld, Graal«, sagte er, als gebe es etwas zu entschuldigen. »Es liegt an diesem Raum.« Er breitete die Arme aus und verschüttete Gin auf dem Boden. »Es ist unmöglich, hier drinnen keine Depressionen zu bekommen! Wer verkleidet schon ein Zimmer mit schwarzem Stein? Und wer baut schon ein Haus halb in den Berg hinein? Von allen Wohnorten, die du hast, ist das hier der schrecklichste. Versteh mich nicht falsch, ich kann den James-Bond-Schurken-Charme erkennen, aber meine Güte, man will doch auch wohnen. Und dieses … Ding da.« Er warf einen Blick auf den Rabenkadaver auf dem Tisch. »Das ist keine Kunst, nur weil es widerlich ist.«

      Graal ging zur Fensterfront. Das Glas ragte schräg über die Klippenkante. Die Berge lagen blau und still unter ihm, so weit sein Auge reichte. Er wusste, dass Isac das Fenster immer mied, weil es ihm eiskalte Schauer über den Rücken trieb.

      »Der Rabe?«, fragte Graal.

      Es dauerte etwas, bis Isac verstand, was er meinte.

      »Oh, der Rabe, ja. Genau. Ja, sie haben ihn gesehen. Sie trug ihn in einem Karton. Sie sind sich sicher, dass sie es ist.«

      Graal drehte sich zu ihm um. »Was sind also die schlechten Neuigkeiten?«

      Isac setzte das Glas an die Lippen und trank, als würde es ihm helfen, die Worte zu tarnen. »Sie haben sie seit ein paar Tagen nicht gesehen. Aber sie ist es! Und wir wissen, wo sie ist.«

      Graal seufzte. »Sie hat sie entdeckt, Isac.«

      »Niemals. Sie ist ein Teenager, die kriegen doch einen Scheiß mit. Und auf diese Sache sind gute Leute angesetzt, nur die besten. Die oberste Liga.« Isac formte mit Daumen und Zeigefinger eine Geste, als spreche er über ein vorzügliches Gericht.

      Graal hatte den Geschmack seiner eigenen Wut im Mund. Stechen wie von Stahlsplittern auf der Zunge. Blut, das kochte. Fehler konnte er sich nicht leisten und er war umgeben von Menschen. Von Menschen, denen die Voraussetzungen fehlten, zu verstehen, und die sie auch nie haben würden. Sie lebten schlicht und einfach nicht lange genug. Menschen machten Fehler. Das lag in ihrer Natur.

      »Komm her, Isac.«

      Isac sackte dort, wo er saß, zusammen. Die Eiswürfel begannen im Glas zu klirren. Das war der Vorteil, wenn man wahre Macht besaß. Man brauchte sie nie auszuüben. Oder sie zu demonstrieren. Sie war immer gegenwärtig. Wie ein Teil von einem selbst.

      Isac stand auf und kam zum Fenster. Er blieb ein Stück entfernt davon stehen und hütete sich davor, hinauszugucken. Stattdessen starrte er Graal an, als sei er eine Rettungsboje in stürmischer See.

      »Isac, ist es mir nicht gelungen zu vermitteln, wie wichtig das hier ist?«

      »Doch! Sie wissen es. Jeder Mann weiß.« Es war nicht untypisch für Isac, dass er sich hinter anderen versteckte, wenn es darauf ankam.

      »Aber weißt du es?«

      »Klar weiß ich das. Das kleine Fräulein wird in ein paar Tagen hier sein. Sie und der Rabe. Darauf gebe ich dir mein Wort, Joshua.«

      Dass Isac es vermied, seinen richtigen Namen auszusprechen, war ein deutliches Zeichen seiner Verunsicherung. Und dafür, dass er selbst an seine Worte glauben musste.

      »Wie kannst du mir dein Wort geben, wenn du da draußen nicht selbst dabei bist, Isac?«

      Schweiß perlte auf Isacs Stirn hervor und glänzte an seinem Haaransatz. »Ich … ich werde natürlich dabei sein! Das liegt jetzt in meinen Händen! Sicher wie in der Bank von England.«

      Graal nahm seinen Arm und führte ihn ans Fenster. Er brauchte seine Macht nicht zu demonstrieren. Er war, wer er war, und brauchte bloß anzudeuten, dass er sie besaß.

      »Was würde passieren, wenn wir jetzt hier runterfielen?«, fragte er und nickte zum Abgrund unter ihnen.

      Isac lachte angestrengt. »Wir würden zerschmettert werden.«

      »Genau. Wir würden zerschmettert werden. Alle beide. Aber weißt du, was der Unterschied zwischen uns ist?«

      Isac stand stumm da. Vermutlich gab es zu viele Antworten. Zu viele Unterschiede. Doch er lächelte. Sein Blick war nervös und dennoch voller Liebe. So war die Macht. Sowohl Angst als auch Liebe wecken zu können. Dazwischen auszutarieren. Ein kaum vorstellbares Paar in ständigem Kampf um die Kontrolle.

      »Wir würden beide dort liegen, Isac. Gerädert, zerschlagen. Arme und Beine von den Felsen in Form gepresst. Du würdest liegen bleiben, wogegen ich … Meine Knochen würden zueinanderfinden, wieder zusammenwachsen. Langsam, aber sicher. Ich würde am Ende wieder aufstehen. Trotzdem bist du der Glückliche von uns beiden.«

      Isac schluckte. »Aus deinem Mund klingt das nicht so.«

      Graal schaute ihn an. »Zerstörung ist schmerzhaft. Aber der Schmerz ist kein Vergleich zu den Qualen beim Heilen. Es ist immer leichter, Dinge zu zerschlagen, als sie zu reparieren. Glaub mir, wenn ich sage, du bist der Glückliche von uns.«


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