Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2). Siri Pettersen

Die Rabenringe - Fäulnis (Band 2) - Siri Pettersen


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      »Isac, du machst den gleichen Fehler wie so viele andere, wenn sie den Tod aus dem Blick verlieren. Sie glauben, es kommt immer wieder eine neue Chance. Aber diesmal gibt es keine neue Chance. Es gilt jetzt oder nie. Tausend neue Jahre würden nichts nützen. Darum ist kein Preis zu hoch. Nichts, absolut nichts ist wichtiger als das. Verstehst du, was ich sage?«

      Isac nickte und senkte den Blick.

      »Gut. Lass mich jetzt allein. Ich habe zu tun.«

      Isac ging dankbar auf die Tür zu.

      »Diskret«, rief Graal ihm hinterher. »Vergiss das nicht.«

      Dann kehrte er Isac den Rücken zu und wartete, bis er hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss. Er ging zum Raben. Der stand aufrecht, erstarrt im Prozess vom Kadaver zum Skelett. Fleisch und Federn waren schon vor langer Zeit versteinert. Selbst er konnte daran nichts mehr riechen. Er ballte die Hand zur Faust, bohrte eine Kralle in die Handfläche und ließ die Tropfen auf den Schnabel fallen. Blut auf Knochen.

      Er lauschte. Wartete auf das Geräusch von Leben. Sterbende Töne waren schön, aber in Wirklichkeit hatten die Töne, die noch nicht geboren waren, etwas ganz Besonderes.

      Der Kadaver begann zu knarren. Der Nacken rührte sich. Der Vogel öffnete den Schnabel. Es dauerte nicht lange, bis er ihre Stimme hörte. Weich und strotzend vor Selbstsicherheit.

      »Graal, ich habe Neuigkeiten, deretwegen du mir einen Antrag machen wirst.«

      Er gestattete sich ein Lächeln. »Gut, denn gerade jetzt bist du die Einzige, auf die ich mich verlassen kann, Damayanti.«

      Rabenblut

      Der Turm des Sehers stand verwaist da. Er war sonst immer durch eine schmale Brücke mit dem Ritualsaal verbunden gewesen, doch jetzt, da es weder Saal noch Brücke gab, ragte der Turm wie ein Warnsignal der Götter aus der Landschaft. Letzter Halt vor Blindból.

      Das gelbe Glas hatte man aus den Fenstern entfernt und wollte es im neuen Ratssaal wiederverwenden. Nur das schwarze Skelett stand noch wie ein kaputter Leuchtturm ganz oben auf der Klippe.

      Rime wusste, wenn er dort hinaufging, würde er Bruchstücke des Baumes finden. Vermutlich würden sie noch genau an derselben Stelle liegen wie in der Nacht, als er ihn zerschlagen hatte. Alles war wie immer. Und nichts war wie immer.

      Die Gärten hinter Eisvaldr lagen unter einer Schneedecke. Zu beiden Seiten des Weges lugten weiße Blumen hervor, die der Wintereinbruch überrascht hatte. Das Wasser im Vogelbecken vor ihm war gefroren. Eiszapfen funkelten an seinem Rand wie Wolfszähne.

      Rime blieb stehen. Hlosnian ging hinter ihm. Hier war der beste Ort für Gespräche. Sogar in großen Sälen konnte die Gabe den Klang weit tragen und dieses Gespräch war nicht für die Ohren des Rates bestimmt.

      Er fischte die Ampulle aus der Tasche und reichte sie Hlosnian. »Ich wollte dich schon längst fragen, aber die wissen, wie sie mich beschäftigt halten.« Hlosnian nahm die Ampulle entgegen, zog den Korken heraus und roch daran. »Du willst sie also vergiften?«

      Rime konnte einfach nicht anders und musste lachen. »Das Risiko besteht früher oder später. Aber das da ist kein Gift, soweit ich weiß. Das da ist die Tinte, die sie während des Rituals verwenden. Sie machen damit den Jugendlichen ein Zeichen auf die Stirn, wenn sie fertig sind. Nach ein paar Tagen verblasst es.«

      Hlosnian verschloss die Ampulle und gab sie ihm zurück. »Ja, auf meine alten Tage habe ich schon einige Rituale gesehen, junger Mann.«

      »Nun, alter Mann, ich könnte jedenfalls wetten, dass du nicht wusstest, dass sie damit bei ihnen die Gabe schwächen.«

      Hlosnian zog eine buschige Augenbraue hoch. »Mit Tinte? Wie … Aaah … Rabenblut.«

      Rime nickte. Jetzt galt es, Hlosnian auf die richtige Fährte zu setzen. Ein Gespräch mit ihm kam einem oft so vor wie drei Gespräche gleichzeitig, vor allem, wenn es um etwas Wichtiges ging.

      »Sie sagen, es sei eine Mischung aus Kräutern, Tinte und Rabenblut. Wusstest du das?«

      Der Steinflüsterer antwortete nicht gleich. Der Wind erfasste seinen roten Umhang, sodass er seine Füße umspielte.

      »Blut, Rime. Geht es nicht immer darum? Wir leben dadurch. Wir sterben daran. Es entscheidet, wer wir sind. Wann wir sind. Man erzählt sich, die Gabe sei daraus geschaffen. Aus Blut der Erde. Der Erde, die wiederum unser Blut färbt. Der Kreislauf ist geschlossen.«

      »Du klingst wie ein Schriftgelehrter.«

      Der Steinflüsterer rümpfte die Nase. »Schriftgelehrte. Was wissen die schon über die Gabe? Die Gabe liebt Blut. Du hast es auf dem Bromfjell gesehen. Urd zwang die Steine empor. Blut von Raben. Feuer aus Stein. Blut verändert Leute. Es verändert auch dich.«

      »Alle verändern sich, Hlosnian.«

      »Oh, na … Manche mehr, manche weniger.« Hlosnian fegte den Schnee vom Vogelbecken und zeigte auf das gefrorene Wasser. »Schau runter und sag mir, dass du jetzt dasselbe siehst wie vor ihr.«

      Rime schaute weg. Es dürfte nicht so schwer sein, zu tun, was der Steinflüsterer sagte. Dennoch wollten die Beine ihn nicht näher tragen.

      »Blut ist Blindwerk, Rime. Ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Die Zunft hat in den letzten Tagen mehr über die Rabenringe geredet als in den letzten zehn Wintern zusammen, aber eine klare Antwort bekommst du nicht. Es gibt so viele Ansichten wie Steinflüsterer, aber wenn du mich fragst, dann hat der Seher so die Tore geschlossen. Er zog die Gabe aus allen Männern und Frauen. Toten wie lebenden.«

      Rime lächelte schief. »Der Seher? Glaubst du immer noch an ihn, Hlosnian?«

      »Die Frage ist, ob du immer noch zweifelst. Du hast den Baum gesehen. Du hast ihn zerstört. Du solltest es besser wissen.«

      Rime hatte den Gesprächsfaden verloren. Er konnte nicht zulassen, dass sich Hlosnian durch Reden um die Sache drückte. »Was hat der Baum damit zu tun?«

      »Was nichts mit dem Baum zu tun hat, ist ein Gespräch überhaupt nicht wert.«

      »Hlosnian …«

      »Du musst aufpassen, wenn ich spreche! Ich sage doch, wie es ist. Der Baum entstand nicht aus sich selbst heraus. Er wurde von jemandem erschaffen. Von der Gabe erschaffen. Die Kraft sprengte das Gebirge in Blindból. Schuf die Kluft durch Ravnhov bis ganz zur Alldjup-Schlucht, erzählt man sich. Glaubst du, so was kommt aus dem Nichts?« Hlosnian schlug gegen die Kälte die Hände zusammen. Der Schnee stob von seinen fingerlosen Handschuhen auf.

      Rime seufzte. »Du hast keine Ahnung, oder?«

      Hlosnian hob die Brust wie einen Blasebalg. »Natürlich nicht, aber das hat auch niemand sonst!«

      Rime hielt ein Lächeln zurück. Der Steinflüsterer bürstete den Schnee von den langen Blumenstielen neben ihnen. »Schau sie dir an, Junge, und stell dir vor, das Wasser, durch das sie leben, sei die Gabe. Was würde passieren, wenn du aus ihnen mit einem kräftigen Saugen jeden Tropfen herausziehen würdest? Sie würden verwelken und absterben. Oder stell dir das Gegenteil vor! Was wäre, wenn du mehr Wasser in sie hineinzwängen würdest, als sie trinken könnten? Dann wären sie genauso tot, stimmts? Und das ist es, was ich sagen will: Die Tore starben, weil alles, was an Gabe vorhanden war, in die Erschaffung des Baumes ging. Die Adern verwelkten. Die Steine sanken in einen Dämmerschlaf.«

      Rime versuchte, die Erinnerungsbruchstücke zusammenzusetzen. Er wusste genau, was ein Zuviel des Guten bedeutete, wenn es um die Gabe ging. Er hatte mehr als jemand sonst davon aufgesogen. Durch Hirka. Was wäre geschehen, wenn der Strom seine Kraft verdoppelt hätte, als er vor dem Rat geschwebt hatte, umgeben von den Raben? Hätte er es überstanden? Oder hätte es seinen Körper gesprengt?

      War es das, was Urd Vetle angetan


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