Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler

Aufbruch in die Dunkelheit - Mark Stichler


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viel zu sehen außer jeder Menge Gerümpel, durch das es sich einen Weg zu bahnen galt. Offenbar hatte man zu guter Letzt einfach nur die Tür geöffnet und defekte oder nicht mehr benötigte Gegenstände und Gerätschaften gerade so weit wie nötig hineingetragen und ohne Weiteres stehen lassen. Es gab keinerlei Ordnung und die Geschwister mussten sich anfangs mühsam einen Weg zwischen Schränken, Sesseln, alten Spiegeln und Gemälden bahnen, bis der Raum weiter hinten etwas leerer wurde.

      „Autsch“, rief Simon plötzlich und fluchte mit unterdrückter Stimme. „So eine Schnapsidee.“ Beinahe wäre ihm die Laterne aus der Hand gefallen. Er bückte sich, leuchtete den Boden ab und rieb sich sein Schienbein.

      „Was ist denn los?“, flüsterte Ava hinter ihm atemlos. Es war ganz offensichtlich, dass sie von ihrem Abenteuer in höchstem Grade fasziniert war.

      „Ich bin mit dem Schienbein gegen einen Beistelltisch gestoßen“, erwiderte Simon nüchtern. Vorsichtig drückte er mit dem Finger auf die Stelle. „Und ich sage es noch einmal: Diese Expedition ist reinste Zeitverschwendung. Wer sollte auf die Idee kommen, sich hier unten freiwillig extremer Verletzungsgefahr auszusetzen?“

      „Es gibt Luftgeister“, versetzte Ava schnippisch. „Die schweben einfach durch alles hindurch.“

      „Die machen dann aber auch nicht so einen infernalischen Lärm, wie du behauptest, ihn gehört zu haben“, gab Simon ärgerlich zurück.

      „Ach, meckere du nur“, sagte Ava entschieden. „Und gib mir die Lampe. Ich gehe voraus.“ Offensichtlich hatte sie nach den ersten paar Metern in dem unheimlichen Kontor Mut gefasst.

      „Von wegen.“ Simon dachte nicht daran, sich solch eine Blöße zu geben. „Komm.“

      Er öffnete eine weitere Tür, die in einen Gang und zu den hinteren Zimmern und Büros führte. Hier war man pfleglicher mit den Dingen umgegangen. Ein paar Schreibtische waren an die Wand gerückt und sorgfältig übereinandergestapelt worden. Daneben stand ein alter Tresor mit geöffneter Tür. Über einen verschlissenen Sessel auf der anderen Seite hatte man notdürftig ein Leintuch gebreitet. Für Ava sah er aus wie der Thron ihrer Geistererscheinung, wie er da im diffusen Schein der Kerze so fahl schimmerte.

      „Die Residenz des Gespensts“, flüsterte sie Simon zu und warf einen Blick in den Tresor. Er war leer. „Es hat sein Geld mitgenommen.“

      „Quatsch“, erwiderte Simon ungehalten. Aber auch er senkte unwillkürlich die Stimme, als würde er vermuten, es wäre jemand im Raum oder gleich nebenan, der sie sonst vielleicht hören könnte.

      Sie durchquerten noch ein paar Räume, leuchteten hinein und gingen weiter, einen schmalen Gang entlang, bis es langsam, aber sicher heller wurde. In den Räumen weiter hinten herrschte dämmriges Tageslicht und enthüllte weitere mit Laken verdeckte Möbel und Regale mit verstaubten alten Ordnern, Heftern und Notizen. Ihre vorsichtigen Schritte scheuchten kleine Wirbel auf, die ihre Schuhe mit feinem Staub puderten, bevor sie sich in aufgeregten Kreiseln wieder legten und neue Muster auf die stumpfen Holzdielen zeichneten.

      „Wo kommt das Licht her?“, fragte Ava leise.

      „Wir sind im hinteren Teil des Kontors angekommen“, sagte Simon. „Möglicherweise ist eines der Fenster auf dieser Seite nicht komplett abgedeckt worden.“ Er zeigte auf eine Treppe hinter einer in Blei gefassten Glastür, die in einem kleinen Raum am Ende des Ganges nach unten führte. „Hier geht es in den Keller.“

      Ava blickte ihn überrascht an.

      „Es gibt hier noch einen Keller? Davon wusste ich gar nichts.“

      Simon nickte.

      „Er ist alt und wurde, glaube ich, nie benutzt. Sieh mal“, sagte er und deutete auf eines der Fenster, die knapp über dem gepflasterten Erdboden auf den Hof hinauszeigten. Die meisten waren mit Brettern vernagelt. Grob gewebte Vorhänge hingen davor und bewegten sich leicht. „Von ein paar der Fenster sind tatsächlich die Holzlatten abgefallen.“

      Ava sah sich in dem tristen Raum mit den kahlen, grauen Wänden um, in dem in einem Eck lediglich ein paar alte Gartengeräte an der Wand lehnten. Sie trat ans Fenster.

      „Nicht nur das“, meinte sie. „Sieh nur. Hier liegen Scherben und das Fenster steht offen. Es sieht fast so aus, als wäre hier jemand eingestiegen.“

      Sie wandte sich zu Simon um. Er trat zu ihr und begutachtete die Scherben und das offene Fenster.

      „Du hast recht.“ Er runzelte die Stirn und blickte seine Schwester an. Beiden lief auf einmal ein kalter Schauer über den Rücken.

      „Was, wenn …“ Ava sprach ihren Satz nicht zu Ende, aber es war Simon anzusehen, dass er genau das Gleiche dachte. Was, wenn noch jemand hier durchs alte Kontor schlich, vielleicht auf der Suche nach etwas, das sich lohnte, mitgenommen zu werden. Oder, noch schlimmer, jemand, der sich so Zugang zum Haus verschaffen wollte …

      „Es sieht aus, als wäre das Fenster schon vor längerer Zeit zu Bruch gegangen“, sagte Simon, nachdem er die Scherben genauer in Augenschein genommen hatte. „Und es ist uns ja niemand begegnet.“

      „Es ist ja wohl kein Problem, sich zwischen all dem Gerümpel hier zu verstecken“, erwiderte Ava. Sie dachte an den offen stehenden Tresor und zeigte hinüber zu der Glastür und dem dunklen Loch, in dem die Treppe zum Keller verschwand. „Er könnte auch da unten sein.“

      Simon warf einen flüchtigen Blick hinüber.

      „Mach keine Witze“, meinte er trocken. „Wer würde schon freiwillig da hinuntergehen?“

      „Warst du schon einmal unten?“, fragte Ava.

      Simon verzog unwillig den Mund.

      „Nein“, sagte er kurz angebunden.

      „Dann wird das jetzt dein erstes Mal.“

      Simon seufzte.

      „Ava, das kann unmöglich dein Ernst sein. Lass uns noch einmal nachsehen, ob sich hier jemand versteckt. Dann gehen wir und sagen Vater, dass im Kontor ein Fenster kaputt ist. Bis es repariert wird, schließen wir die Tür zum Kontor wieder ab. Selbst wenn hier jemand etwas stiehlt … Was soll’s. Kein Mensch braucht das Gerümpel mehr …“

      „Bist du gar nicht neugierig?“, fragte Ava. „Ganz abgesehen davon, dass wir nachsehen müssen.“

      „Müssen?“ Simon lachte nervös.

      Auch Ava lachte.

      „Simon, du hast Angst. Nimm die Laterne und komm.“ Zielstrebig ging sie auf die Treppe zum Keller zu und starrte hinunter in das schwarze Loch, das sich vor ihr auftat. Es sah aus wie Materie, die da in einem haltlosen Abgrund waberte wie die See. Ein kleiner Einblick in die Unendlichkeit, die sich ihnen da im Untergrund auftun würde. Als wäre die Erde nur eine Oberfläche, eine Kruste, die sich gebildet hatte, um diesen schwarzen Ozean notdürftig vor den Augen des Universums zu verbergen. Und hier, im Keller der Mandelbaums, gab es einen Zugang.

      Simon schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen.

      „Warum habe ich mich auf diesen Unsinn eingelassen?“, murmelte er. Dann gab er sich einen Ruck und trat zu Ava. „Wir werfen einen Blick da runter und dann gehen wir. Klar?“

      Ava nickte. Sie sah aus, als wäre sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee war, in diesen Keller zu steigen. Doch jetzt war es zu spät. Simon ging langsam die Stufen hinunter und sie folgte ihm. Der Schein der Kerze erhellte ein paar Stufen, die immer glitschiger wurden, je weiter sie nach unten kamen. Die Wände waren aus Ziegeln gemauert, die aussahen, als würden sie sich schon in einem Zustand der Auflösung befinden, wieder auf dem Weg zurück in ihre irdenen Ursprünge. Die Treppe machte einen halben Bogen, und als Ava sich umdrehte, bemerkte sie, dass von oben kein Licht mehr zu sehen war. Sie waren vollständig umgeben vom Dunkel. Die Laterne stellte die einzige Insel im Schwarz dar. Dann erreichten sie den Boden.

      „Wer sich hier unten versteckt, muss verrückt sein“, flüsterte Simon.

      „Stimmt“,


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