Aufbruch in die Dunkelheit. Mark Stichler
solche Dinge nach. Aber er ist …“ Sie zögerte. „Er ist eben sehr zurückhaltend.“
„Du weißt es nicht“, sagte Hans mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme. „Du weißt nicht, wie er über solche Dinge denkt, nicht wahr?“
„Er ist mehr an den praktischen Dingen des Lebens interessiert“, erwiderte Ava wenig überzeugend.
Hans sah ihr fest in die Augen.
„Liebst du ihn denn?“, fragte er plötzlich.
Ava errötete tief.
„Wie kommst du nur dazu, mir eine solche Frage zu stellen?“, rief sie außer sich. „Was geht es dich an?“
„Was mich das angeht?“, fragte Hans irritiert. „Ich dachte, wenn jemand das Recht hat, eine solche Frage zu stellen, dann ich.“
„Du?“ Ava sah ihn überrascht an. „Warum denn das?“
Hans schüttelte entrüstet den Kopf.
„Ava, wir beide kennen uns, seit wir Kinder sind. Wir haben zusammen in der Theatergruppe der Gemeinde gespielt. Unsere Väter sind Geschäftspartner, seit ich denken kann. Und, nun ja, irgendwie auch befreundet miteinander. Du und Simon, Eduard und ich, wir haben unsere ganze Jugend gemeinsam verbracht.“ Er blickte Ava tief in die Augen. „Und haben wir beide uns nicht schon vor Ewigkeiten Treue geschworen? Ich weiß es noch, als sei es gestern gewesen. Solltest du es tatsächlich vergessen haben?“
Ava schwieg und blickte zur Seite. Hans nahm sie beim Arm.
„Wir haben so viele Gespräche geführt, so viele Träume geteilt“, fuhr er fort. „Das kann dir doch unmöglich gar nichts bedeutet haben. War das alles nur Theater? Das kann ich nicht glauben.“
Ava presste die Lippen zusammen und starrte vor sich hin. Doch dann holte sie tief Luft und blickte Hans fest in die Augen.
„Du meinst ein Recht zu haben aufgrund eines Schwurs, den wir uns in der Kindheit geleistet haben?“, fragte sie leise und beherrscht, aber mit bebender Stimme. „Dir ist es tatsächlich ernst damit? Ich könnte auch dich fragen, ob das alles nur Theater ist. Vielleicht ist es nur ein bisschen verletzter Stolz, weil ich mich nicht nach dir verzehre, dir keine dramatische Szene mache?“
„Warum solltest du …“, warf Hans verblüfft ein. Doch Ava unterbrach ihn.
„Mir war nicht klar, dass du überhaupt noch daran denkst“, fuhr sie nachdenklich fort. „Wir waren fast noch Kinder …“
„Aber natürlich“, rief Hans eifrig. „Ava, willst du die Sache nicht noch einmal überdenken?“
Ava sah ihn traurig an.
„Ach, Hans. Für dich ist das alles einfach. Du denkst, du kannst alles mit ein paar Worten verändern. Du denkst, das alles hätte keine Konsequenzen. Es ist einfach nur ein Spiel.“ Sie seufzte. „Für dich mag das zutreffen. Aber nicht für mich. Nicht mehr, seit ich kein Kind mehr bin. Ich bin eine Frau. Wir können solche Spiele nicht spielen.“
„Wir?“, fragte Hans erstaunt. „Wer ist wir? Und ich spiele nicht. Es ist mein Ernst.“
„Wir?“ Ava sah ihn ärgerlich an. „Such dir etwas aus. Wir Frauen … Wir Juden …“, ereiferte sie sich. „Wie kannst du nur sagen, es ist dir ernst? Du weißt gar nicht, was das bedeutet. Mit was ist es dir denn ernst? Willst du mir deine Liebe gestehen? Oder hast du das schon getan? Und wenn ja, wie stellst du dir denn das vor? Ich will nicht das Gesicht deines Vaters sehen, wenn du ihm davon erzählst.“ Sie wurde ruhiger. „Hans, diese Szene ist doch eine Farce. Denk noch einmal darüber nach. Ist es nicht vielleicht die Sorge darüber, dass sich alles verändern wird, die dich so reagieren lässt? Unsere Abende mit Simon und Eduard werden vielleicht nicht mehr dieselben sein. Aber wenn du ehrlich bist, sind sie das doch schon lange nicht mehr. Auch Eduard hat sich sehr verändert, seit er zurück ist. Und …“, sie drückte sanft Hans’ Arm, „Aaron ist ein lieber Mensch. Ich bin sicher, dass ihr euch gut verstehen werdet. Zugegeben, er ist anders als du und Simon. Vielleicht ist er nicht so gebildet, nicht so politisch, nicht so radikal … Er ist zufrieden mit seiner Arbeit und seinem Leben. Aber deshalb ist er keineswegs dumm. Und bestimmt haben wir auch mit ihm noch eine Menge schöner gemeinsamer Abende vor uns.“
Hans wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür zum Salon und der alte Mandelbaum trat ein. In der Regel ließ er die jungen Leute bei ihren Treffen allein, doch manchmal kam er, um die Gäste seiner Kinder zu begrüßen. Sehr selten gesellte er sich für kurze Zeit zu ihnen und nahm an der Unterhaltung teil, die sich dann naturgemäß stark veränderte. Doch heute lag eine merkwürdige Aura um ihn, die alle Aufmerksamkeit sofort auf sich zog und die Gespräche augenblicklich verstummen ließ. Er wirkte filigran, beinahe zerbrechlich. Seine Augen schienen dunkler zu sein als gewöhnlich, seine von jeher schon sehr akkurate Art sich zu bewegen schien an Präzision noch zugelegt zu haben. Er ging vorsichtig, fast behutsam, als wolle er die Luftströme um ihn herum nicht zu sehr in Aufruhr versetzen. Als befürchte er, die natürliche Ordnung der Dinge mit seinem Erscheinen durcheinanderzubringen.
Alle blickten ihn gespannt an.
„Es tut mir sehr leid, stören zu müssen“, sagte Mandelbaum mit leiser, seltsam brüchiger und doch deutlich vernehmbarer Stimme. „Aber ich habe eine traurige Nachricht. Tante Lea ist gestorben. Sie hat uns wahrscheinlich am frühen Abend verlassen. Ich bitte um euer Verständnis, aber ich muss euer Treffen unterbrechen.“
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