Der rote Reiter. Richard Harding Davis
Oberst zu melden, lasse ich ihn nachher zu mir kommen, gebe ihm’was zu trinken und entschuldige mich bei ihm. Ich sage Ihnen: Die Armee bedeutet mir nichts, wenn nicht etwas los ist, und da es Kampf und Abenteuer hier draussen nicht gibt, so möchte ich lieber im Klubraum im New Yorker Holland House sein und im pneumatikberäderten Automobil fahren. Das alte kleine New York ist gut genug für mich!“
Während er diese schicksalsschweren Worte der Rebellion sprach, warf Leutnant Ranson einen raschen Seitenblick aus seinen schwarzen Augen auf das Gesicht von Mary Cahill. Es war beinahe so, als erwarte er seine Antwort von ihr. Was er von Mary Cahill zu hören wünschte, hätte er freilich selbst nicht sagen können. Aber seit der Gedanke in ihm aufgetaucht war, aus der Armee auszuscheiden, erschienen ihm Mary Cahill und die Armee als synonyme Begriffe, bedeuteten das Gleiche. Er bekämpfte zwar diese Erkenntnis blindlings. Dass die Armee ohne frischfröhlichen Felddienst unerträglich war, sagte ihm die Erfahrung der letzten sechs Monate; dass aber bürgerliches Leben ohne Mary Cahill ebenso unerträglich sein würde — das war doch durchaus keine feststehende Tatsache. Natürlich nicht! Er hatte den Gedanken belacht. Er hatte sich die Sache sogar ganz vernünftig zurechtgelegt. War es anzunehmen, so fragte er sich, dass ein Mann nach dreimaliger Umrundung des Erdballs das einzige Mädchen auf der Welt, das ihn glücklich machen konnte, auf der weiten Prärie, hinter dem Ladentisch eines Forthändlers sitzend, finden sollte? Sein Interesse für Miss Cahill war das Resultat eines allzu nahen Zusammenseins. Natürlich! Weil sonst niemand da war, weil er Mitleid fühlte mit ihrem Alleinsein, weil die lächerliche gesellschaftliche Abgeschlossenheit, der sie unterworfen war, seine Sympathien erweckt hatte. Wie lange wohl würde er, nach New York zurückgekehrt, sich des kleinen Kameraden erinnern, der furchtlosen kindlichen Augen in dem feinen weiblichen Gesichtchen, der wallenden Wogen wunderbaren Haares? Nicht sehr lange, meinte er. Vielleicht würde er sich erinnern, wie sie ihren Ponny ritt, wie sie sich aus dem mexikanischen Sattel beugte und ihren Handschuh vom Boden aufhob. Ja, das würde er wohl nicht vergessen. Und er würde sich auch des Tages erinnern, an dem er hinter ihr her galoppiert und mit ihr durch das Indianerdorf geritten war, und an jenen Tag, als sie miteinander den Ausflug zum Wasserfall machten. Und ihr Gesicht würde er nicht vergessen — wie sie sich abends über die Bücher beugte, die er für sie geborgt und die sie las, während die Offiziere assen, in dem hohen Stuhl sitzend, das Kinn in die Hände gestützt, auf das Buch vor ihr starrend. Und wie sie, wenn er sprach, den Kopf erhob und in das Feuer sah, mit lächelnden Lippen und aufleuchtenden Augen. Freundliche, liebe Erinnerungen würden es sein, sicherlich. Aber nach seiner Rückkehr in den Strudel und das Jagen der grossen Welt, die ausserhalb Fort Crocketts pulsierte, würden sie sogar als Erinnerungen verblassen.
Mary Cahill gab kein äusserliches Zeichen einer Antwort auf die rebellischen Aeusserungen des Leutnants Ranson. Sie beugte sich nur über das Buch und versuchte, sich vorzustellen, was der Militärposten ihr noch geben könnte, wenn er seine Drohung ausgeführt hatte; wenn er in die Welt zurückgekehrt und für immer aus ihrem Leben verschwunden war. Nacht für Nacht hatte sie so dagesessen, auf ihrem Thron hinter dem Ladentisch, und seinem Erzählen gelauscht, in tiefer Verwunderung. Von einer Welt hatte er gesprochen, die sie nur aus Romanen, aus der Geschichte, aus Reisebeschreibungen kannte. Seine Schilderungen dieser Welt wirkten nicht gerade erzieherisch: er war weder ein Weiser noch ein geschulter Beobachter. Er erinnerte sich an London — das ihr die Hauptstadt der Welt bedeutete — hauptsächlich ob seiner Restaurants; an Kairo ob seiner schlechten Golfspielplätze. Er lebte, um fröhlich zu sein. Er betrachtete die Welt aus den Augen eines Knaben, eines frischen gesunden Jungen, der sich nach Aufregung sehnt. Sie hatte die Geschichte seiner kurzen Universitätszeit in Harvard gehört; die Geschichten von den Versammlungen in Henrys American Bar in Paris, vom Grand Prix und anderen Rennen; von einer Jachtfahrt, die anscheinend alle nur möglichen Formen der Abenteuerlichkeit umfasst hatte, von der Rettung einer gestrandeten Operettengesellschaft bis zum Rammen der Dhau eines Sklavenjägers. Die sehnsüchtige Trauer, mit der er von diesen Tagen der Freiheit sprach, eine Trauer, wie sie ein auf einer wüsten Insel ausgesetzter Verbannter empfinden mag, erweckte ihr ganzes Mitgefühl. Sein unhöflicher Spott über die gesellschaftlichen Vergnügungen des Militärpostens (von denen sie ausgeschlossen war), erfüllte sie mit verwundertem Staunen. Wie glänzend und köstlich musste sein früheres Leben gewesen sein, schloss sie, wenn er sich aus diesen Gesellschaften so gar nichts machte. Das half ihr, die eigenen gesellschaftlichen Entbehrungen leichter zu ertragen. Und da sie ein treues Kind der Armee war, so gefiel er ihr schon deswegen, weil er kein »politisierender Offizier« war, sondern ein Kämpfer; einer der gefochten hatte, ohne sich lang Gedanken über Recht oder Unrecht der Sache zu machen, um der Freude am Kampfe willen.
Und eines Abends, als er den Kameraden von einem Filipino-Offizier erzählt hatte, der allein gegen ihn und seine Soldaten focht und, ihn verfluchend, in seinen Armen gestorben war, ging sie ins Bett mit dem klaren Bewusstsein, dass Leutnant Ranson viel zu sehr dem Bilde ähnelte, das sie sich von ihrem zukünftigen Gatten machte — viel zu sehr für den Frieden ihrer Seele. Ranson hatte nicht verhehlt, wie sehr er den tapferen Mann bewunderte, der im Kampf für die Freiheit gefallen war; er wurde so traurig in der Erinnerung an den elenden Tod des Braven, dass die Tränen ihm über die Wangen liefen. Die anderen Offiziere wurden ganz verlegen. Ranson aber trocknete sich die Tränen unbefangen und sagte nur:
„Er hatte feuriges Blut in den Adern! Mir hat noch nie irgend etwas so weh getan wie das Schicksal jenes Jungen. Jedesmal, wenn ich daran denke, wie er, fast in Stücke zerschossen, sich mit dem Rücken an die Kirchenmauer lehnte und bis zum letzten Atemzug auf uns feuerte, kommen mir die Tränen. So,“ schloss er verlegen, „will ich lieber nicht mehr daran denken.“
Tränen sind von Rechts wegen eines Weibes Waffen, und wenn ein Mann sie benutzt, sei es auch gegen seinen Willen, so kämpft er gegen das andere Geschlecht mit dessen eigenem Rüstzeug. Was höchst unrecht ist. Leutnant Ranson halte keine Ahnung, welches Unheil sein Mitleid für seinen Feind in Mary Cahills Herzen angerichtet hatte! Noch wusste er, dass sie ihn von jenem Abend an aus tiefster Seele liebte.
... Die beiden jungen Offiziere rauchten eine Zeitlang in nachdenklichem Schweigen, ehe sie Ransons Ultimatum weiter beantworteten.
„Oh, es hat aber auch in Fort Crockett Gelegenheit zum Fechten gegeben,“ sagte Crosby. „Während der letzten zwei Jahre ist der Posten siebenmal alarmiert worden, nicht wahr, Miss Cahill? Als die Indianer unbotmässig wurden, und zweimal wegen der Cowboys, und zweimal um des Roten Reiters willen.“
„Puh, der Rote Reiter!“ protestierte Ranson. „Ich sehe nichts Aufregendes darin, einen elenden Pferdedieb einzufangen.“
„Er lässt sich aber nicht fangen,“ erwiderte Curtis, ein wenig ärgerlich. „Das ist eben das Aufregende. Er ist der Beste in seinem Geschäft. Er hat nunmehr neunmal in zwei Jahren den Postwagen beraubt. Wer der Kerl auch sein mag, ob’s ein Mann ist oder mehrere Männer, jedenfalls ist er der schneidigste Strassenräuber seit den Tagen von Abe Chase.“
Da Abe Chase seinen Namen durch Hunderte von Ueberfällen berühmt gemacht hatte und mit grosser Feierlichkeit gehängt worden war, so wollte das schon etwas heissen. Doch Ranson neigte in seiner augenblicklichen Laune zu Pessimismus.
„Einen Postwagen auszurauben, erfordert keinen Mut,“ widersprach er.
Curtis und Crosby wieherten förmlich.
„Das sagen Sie!“ spottete Curtis.
„Na, es gehört aber tatsächlich kein Mut dazu,“ wiederholte Ranson. „’s ist alles nur Bluff. Die Etikette verlangt, dass der Kutscher den Strassenräuber nicht erschiesst und dass der Strassenräuber dem Kutscher auf keinen Fall etwas tut, und die Passagiere sind viel zu erschrocken, um sich zu rühren. In dem Augenblick, wo sie einen Mann aus der Nacht auftauchen sehen, werfen sie die Hände in die Höhe. Hoh! Versucht aber wirklich ein Passagier seinen Revolver zu ziehen, so dulden es seine Mitpassagiere schon gar nicht! Jeder meint natürlich, gerade er würde getroffen werden, wenn es zum Schiessen käme. Und ausserdem kann man ja nicht wissen, wieviele Mithelfer der Strassenräuber hinter sich hat. Nein, ich — —“
Eine Bewegung, die Miss Cahill machte, veranlasste ihn, plötzlich abzubrechen. Miss Cahill war im Begriff, von ihrem Thron herabzusteigen, denn der Forthändler rief sie aus dem Nebenraum.
„Lightfoots