Gewagte Beziehungen. Holm Schneider

Gewagte Beziehungen - Holm Schneider


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Selektion und »survival of the fittest«. Für einen solchen Biologen bleibt – blickt er auf das Lebewesen Mensch – die Liebe nicht eine saisonale Bindung und Gemütsverfassung, die auch wieder vergehen kann oder völlig rational gesteuert zu sehen ist, sondern sie ist Geschenk und Auftrag zugleich.

      Rein rational und ausschließlich biologisch betrachtet, scheint die Liebe solch ungleicher Partner, wie sie Holm Schneider beschreibt, ein ausgesprochenes Paradox. Wie schwer mag es doch den Gehandicapten fallen, an die Liebe und nicht nur an das Mitleid des Partners zu glauben, um einer bis an den Tod gelebten Ehe sicher zu sein? Gewinnen werden am Ende beide, wenn sie sich der Herausforderung stellen, einander in Liebe zu vertrauen.

      Was ist das Geschenk, die Gabe, die jeder von beiden, im Ergebnis einer Symbiose nicht unähnlich, erhält? Liebe, Achtung, tiefste, sonst nirgends in dieser Weise geschenkte Wertschätzung, auch Hilfe in Bedrängnis und Handicap der eine. Der andere, nicht eingeschränkte Ehepartner kann sich gerade auf Grund der bezwungenen anfänglichen Hindernisse einer großen Tiefe seiner Liebe sicher sein. Zudem belohnt ihn das tägliche Überwinden der verschiedensten Hürden mit Freude; je höher die Hürden, desto tiefer die Freude.

      Mancher Evolutionsbiologe, der im Homo sapiens nur ein geistbegabtes, höheres Säugetier sieht, könnte nach Sinn und Berechtigung fragen, wenn Eltern in Liebe, jedoch unter Inkaufnahme möglichen Leids, Kindern das Leben schenken.

      Aber ist unser menschliches Leben überhaupt allein nach unserer Vernunft und mit unseren irdischen Kräften zu bestehen?

       Prof. Dr. Reinhard Agerer, München

       Evolutionsbiologe

      Bitte alle recht freundlich!

      INA & CHRISTIAN

      Küssen verboten

      Ina seufzte. Was hatte sie bloß auf diesem Chorausflug zum Kloster Weltenburg verloren? Sie war Sportlerin – Biathletin, Diskuswerferin, seit kurzem Mitglied der Goalball-Nationalmannschaft. Doch statt zu trainieren stand sie hier in einer alten Kirche herum, die sich trotz der Stimmen von Jenny, Valentin und den anderen fremder anhörte als jede neue Sporthalle.

      Ja, Chormitglied war sie auch. Davor hatte sich keiner drücken können, nicht mal Valentin, der fast immer falsch sang. Der Chor war die heilige Kuh der Blindenschule. Es gab kein Vorbeikommen, wenn er einem im Wege stand. Er hatte Vortritt seit eh und je, selbst vor dem Leistungssport.

      Lustlos klapperte Ina mit dem Blindenstock an eine schmale Säule, neben der ein Vorhang bis auf Knöchelhöhe herabhing. Ein Beichtstuhl vermutlich.

      Von links kam jemand auf sie zu, sie erkannte ihn an seinem schlurfenden Schritt: Christian, ein junger Mann, der an der Blindenschule Zivildienst leistete. Er tippte an ihren Arm und fragte: »Soll ich dir was Merkwürdiges zeigen?«

      »Nur zu«, murmelte Ina. Christian ergriff ihre Hand.

      »Da sind Felsbrocken in der Wand, fühl mal!« Er führte ihre Finger zu dem kantigen Gestein, das den Beichtstuhl umgab. Mäßig interessiert betastete Ina die zerklüftete Oberfläche, die so gar nicht zu den Marmorsäulen und den Verschnörkelungen ringsum passte.

      »Keine Ahnung, warum man die hier eingebaut hat«, bekannte Christian. »Auf dem Bild darüber ist jedenfalls das Schiff von Christoph Kolumbus zu sehen. Damit sollen die Benediktiner in Amerika gelandet sein.«

      Ina versuchte sich ein Schiff mit Mönchen an Bord vorzustellen. Doch Christians Gegenwart lenkte sie ab. Er blätterte im Kirchenführer. Eigentlich ein ziemlich netter Bursche, dachte sie. Schade, dass er ihre Hand gleich wieder losgelassen hatte. Aber … Ihre Stimmung hellte sich auf. Der Gedanke, mit dem schüchternen Zivi anzubandeln, gefiel ihr. Flirten war das beste Mittel gegen Langeweile. Das würde den Tag retten!

      Es machte ihr Spaß, ihren ganzen Charme spielen zu lassen, was Christian allerdings erst auf der Rückfahrt zu bemerken schien. Sie wusste ja nicht, dass er, seit seine Freundin ihn verlassen hatte, quasi taub und blind für weibliche Annäherungsversuche war. Seine Zurückhaltung erhöhte für sie nur den Reiz des Spiels, das dann auf einmal keines mehr war …

      Zwei Wochen lang musste Ina auf eine weitere Gelegenheit warten, die sich endlich im Münchner Hirschgarten bot. Sie waren mit dem Tandem hergekommen und froh, noch an einem der Tische Platz zu finden. Umgeben von Brathähnchenduft, Gelächter und dem Klingen der Maßkrüge genossen sie den lauen Sommerabend, bis Ina unvermittelt den Versuch unternahm, ihre Gefühlslage in Worte zu fassen. Christian wirkte irritiert. »Ich mag dich auch«, erklärte er, aber als Betreuer sei es ihm natürlich nicht erlaubt, mit einer 17-jährigen Schülerin eine Beziehung anzufangen. Außerdem habe er wenig Lust auf eine neue Beziehung, weil er München bald verlassen werde, um in Erlangen ein Informatikstudium zu beginnen.

      So schnell gab Ina nicht auf. Hier war ganzer Einsatz gefragt, auch wenn es nicht um Medaillen ging. Sie summte ihm »Küssen verboten«, den aktuellen Hit der Prinzen, ins Ohr.

      Christian stellte seinen Bierkrug ab. »Probieren wir’s«, entschied er.

      »Nur nicht so schüchtern«, wollte Ina sagen. Doch da spürte sie schon den Druck seiner Lippen und konnte nichts, gar nichts mehr sagen.

      Am Sonntagnachmittag rief Christian sie zu Hause an.

      »Was ist eigentlich deine Konfession?«, erkundigte er sich.

      »Warum willst du das denn wissen?«

      »Oma hat danach gefragt … War ihre erste Frage, als ich von dir erzählt habe.«

      »Nun, wenn sie das so interessiert: evangelisch, nicht aus der Kirche ausgetreten. Ist das nicht genauso nebensächlich wie meine Schuhgröße?«

      »Für mich schon. Aber sie war entsetzt, dass ich keine Ahnung davon hatte. Oma ist noch richtig katholisch.«

      »Dass ich blind bin, stört sie nicht?«

      »Nein, dazu hat sie nichts gesagt.«

      Zu Christians Erleichterung tauchten im Alltag an der Blindenschule keine unerwarteten Fragen auf. Obwohl beide sich darum bemühten, lange geheim blieb ihre Verbindung nicht. Eigentlich war es nur Jenny, Inas Freundin, der sie sich als Paar zu erkennen gaben, doch nach und nach bekamen auch andere etwas davon mit, sogar Erzieher, die anscheinend ein Auge zudrückten. Ina war als aufmüpfig bekannt, hatte sich wegen ihres Trainingspensums Extra-Essenszeiten und die Befreiung von den obligatorischen Brettspielen erstritten und ließ sich kaum in Verlegenheit bringen. Dass sie Christian, dem vier Jahre älteren Zivi, gegen ihren Willen »ausgeliefert« sein könnte, zog niemand ernsthaft in Betracht.

      Dann ging Christian zum Studium nach Erlangen. Er besuchte Ina an den Wochenenden, fuhr mit zu Wettkämpfen, die immer mehr Zeit einnahmen, und träumte nachts davon, wie Goalball-Akteure mit dunklen Brillen den Klingelball über das Spielfeld schleuderten, wo er ganz allein – statt Ina und ihren zwei Mitspielerinnen – das neun Meter breite Tor verteidigen musste.

      Die Stunden zu zweit verstrichen meistens viel zu schnell, doch Christian war auch froh darüber, dass Ina ansonsten allein zurechtkam. Die ersten Semester forderten ihn sehr. So konnte er sich auf neue Programmiersprachen konzentrieren, während sie im Trainingslager der Goalball-Nationalmannschaft schwitzte.

      Ina beim Goalballtraining in Aktion

      In den Ferien leisteten sie sich Ausflüge in die Natur und die Münchner Konzertsäle oder trafen sich mit Freunden. Seit sie bei einem gemeinsamen Konzertbesuch die Frage: »Ist das dein Zivi?« mit einem eindeutigen Kuss beantwortet hatten, sprach es sich herum, dass sie ein Paar waren.

      Christian hörte, wie zwei Kommilitonen sich darüber lustig machten, aber das regte ihn nicht auf. Er wusste, was er tat und was er an Ina hatte. »Das ist doch gar keine richtige Frau«, meinte ein Freund, woraufhin Christian den mit ihm geplanten Grillabend absagte. Das war ihm einfach zu blöd.


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