Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Tilman Mayer
Formulierung nicht doch zu viel Pathos der damaligen Zeit.
Der Geburtstag Bismarcks liefert uns den Anlass, doch die Gründe für die Beschäftigung mit Bismarck müssen tiefer liegen. Den wichtigsten haben wir mit der Reichsgründung schon genannt. Aber natürlich möchte man sich auch das gesamte Werk in einer, wenn auch nur exemplarischen Betrachtung vor Augen stellen – und dazu haben namhafte Autoren dankenswerterweise einen eindrucksvollen Beitrag geleistet.
Die Art und Weise, wie Otto von Bismarck die Reichsgründung erreichte, kann man nicht anders als zeitbedingt ansehen: mit Eisen und Blut – so die saloppe Formulierung der damaligen Zeit9 – und nicht mit Majoritätsbeschlüssen. Es war der berühmte Mantel der Geschichte, den Bismarck ergriff, also die historische Chance, die er in eine Gelegenheit verwandelte – eine Occasione, gegen Frankreich gewendet das Deutsche Reich zu schaffen. Die Gründung des deutschen Nationalstaates ist dabei untrennbar mit der deutsch-französischen Erblast verbunden. Dass die Reichsgründung im Dissens mit Frankreich entstanden ist – dieses Faktum hat Bismarck nicht aus der Welt geschafft, er hat es vielmehr genutzt; obgleich von Anfang an auch in Deutschland Kritik an der okkupatorischen Politik (Elsass-Lothringen) geübt wurde, die die preußischen Militärs dem Kanzler auferlegten.10 Bebel etwa war hier weitsichtiger. Das darwinsche Recht des Stärkeren führte zwar zum Erfolg, aber Stärke ist ein vergängliches Gut. Das Auftrumpfen im Spiegelsaal von Versailles hätte irgendwann eines Ausgleichs mit Frankreich bedurft, um eine Revanche zu verhindern. Nicht nur Bismarck war sich immer im Klaren, dass Frankreich Deutschland gegenüber kritisch bis feindlich eingestellt sei. Insofern könnte man sagen, dass 1871 das Reich mit einem Geburtsfehler zur Welt kam, und eine Heilung dieser Fehlentwicklungen wurde nicht angestrebt. Wir können aus heutiger Sicht verstehen, dass das damalige Deutschland sich gegenüber Frankreich so verhalten hat. Und immerhin ist es Bismarck zu verdanken, dass in Paris nicht gar einmarschiert wurde, so, wie es Napoleon in Berlin getan oder ähnlich wie Napoleon I. im Frieden von Tilsit 1807 Preußen gedemütigt hatte. Aber die Annexion Elsass-Lothringens – so sehr dafür historische Gründe geltend gemacht werden konnten – war eine sich bitter rächende Hypothek im deutsch-französischen Verhältnis.
Dennoch bleibt die Reichsgründung natürlich eine Großtat, auch weil sie sozusagen den Weg der Einigung in Gestalt der Schaffung des Norddeutschen Bundes vollendete – wenn auch um den Preis, dass Österreich seit 1866 auf Distanz gebracht wurde.11 Die Reichsgründung war eben kein revolutionärer Akt von unten, wie 1848 angedacht, sondern eine Revolution von oben, die die bestehenden Monarchien nicht antastete. So gesehen wurde die Wiener Ordnung von 1815 nicht revolutionär verändert, sondern nur die Mitte Europas staatlich integriert, die ökonomisch durch den Zollverein schon eine Prägung erfahren hatte. Es wurde sozusagen nachgeholt, was sich historisch ohnehin in Europa nationalstaatlich abzeichnete. Aber eben darin lag für Deutschland, das kleindeutsche, das revolutionäre und früher nie erreichte späte Einigungswerk. Die deutschen Länder waren nicht mehr Objekt ausländischen Interesses, sondern erhielten Subjektcharakter in einem größeren Ganzen. An der Fortexistenz der Fürstenstaaten ist das Deutsche Reich jedenfalls nicht gescheitert, auch wenn sich die deutsche Nation im Vergleich zu Frankreich nicht une et indivisible verfasste, nicht eine zentralistische Struktur erreichen konnte oder wollte. Das große Preußen war weniger das Problem, wohl aber seine politische Kultur. Die Kunst Bismarcks war es, dieses Reich im Inneren zu schaffen, also nicht an Fürstenegoismen zu scheitern und nach außen abzusichern. Für diese nationale und internationale Staatskunst steht der Name Bismarck. Die Gründung des italienischen Staates, des für Deutschland historisch und kulturell immer wichtigen Italiens,12 war diesem Reichsgründungsakt vorausgegangen. Und im Jahr 2011 konnte ganz Italien 150 Jahre italienische Staatlichkeit begehen – ein Pensum, das Deutschland noch nicht erreicht hat.
Dass der deutsche Staat nichtdeutsche Minderheiten inkorporierte, war aus damaliger Sicht, im Vergleich mit den europäischen Nationalstaaten, nicht besonders auffallend. Andererseits hatte sich der Frühnationalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch für andere Nationalbewegungen, etwa die polnische und griechische, engagiert. Doch aus dieser geistigen Tradition heraus zum Beispiel Posen mehr Spielraum zu geben hätte damals bedeutet, das reaktionäre zaristische System herauszufordern. Theodor Schieder allerdings hat auf einige Schwierigkeiten des Deutschen Reiches als Nationalstaat aufmerksam gemacht: etwa, dass im Reichstag von einem elsässischen Vertreter das Selbstbestimmungsrecht einge fordert – und abgelehnt wurde; etwa, dass Polen im Reich nicht nationalitätsbezogen, sondern staatsnational begegnet und im Gegensatz zu Elsass-Lothringen keine kulturnationale, Herdersche Identität erlaubt wurde. »Das polnische Gemeinwesen im preußischen Staat wurde sozusagen ein Anti-Körper im Nationalstaat.«13 Und die nach-bismarcksche Radikalisierung des Denkens bei den Alldeutschen bedeutete gar die Pervertierung des Nationalstaatsgedankens und dessen Instrumentalisierung für einen Imperialismus, der weltpolitischen Fantasien huldigte und schon gar nicht duldete, was nationalitätsrechtlich von polnischen Reichsbewohnern verlangt wurde. Auch was die Flagge des Reiches – im Gegensatz zur 1848er Flagge – signalisierte, dass sie »eine künstlich geschaffene« war, »in der die Farben des Hegemonialstaates Preußen dominieren«,14 zeigt ein Spannungsverhältnis zwischen den Ideen Reich und Nation, das schwelte und über Bismarck nicht zu lösen war, da er selbst eher preußisch gesonnen blieb als unbedingt nationalstaatlich. Paradoxerweise steht dennoch Bismarck mit der Reichsgründung als Inkarnation der Nationalstaatsbildung in der historischen Bilanz in den Büchern.
Dass Bismarck den deutschen Nationalstaat in seiner 1871er Verfasstheit als saturiert ansah, hätte als pure Selbstverständlichkeit für alle nachkommenden Regierungen gelten müssen. Wir wissen, dass dem leider nicht so war. »Wir haben nichts zu erobern, nichts zu gewinnen, wir sind zufrieden mit dem, was wir haben«, so Bismarck vor dem Deutschen Reichstag im Februar 1876.15 Es hätte die Kardinaltugend des ganzen Reiches sein müssen, sich daran zu halten, sozusagen als eine testamentarische Verfügung. Die deutsche Hybris begann nach Bismarck – als man sich mit dieser eindrucksvollen Größe des zweiten deutschen Reiches und dem jung gegründeten Nationalstaat nicht mehr begnügte. Diese »verspielte Größe«,16 von der Fritz Stern spricht, gehört zur Tragik der deutschen Geschichte der letzten 150 Jahre.
Die Kanzlerschaft Bismarcks verblieb in seiner Regierungsära und nach seinem eigenen Selbstverständnis unmissverständlich im monarchischen Rahmen. Das ist deswegen besonders erwähnenswert wie erklärungsbedürftig, weil die Stellung dieses starken Reichskanzlers eine blieb, die einzig dem Kaiser verantwortlich war. Er war »ein vom Monarchen abhängiger Beamter«, hält Beate Althammer nüchtern fest.17 Und auf etwas Kurioses möchte der amerikanische Biograf Jonathan Steinberg im ersten Satz seines zitatenreichen Werkes hinweisen: »Otto von Bismarck hat Deutschland geschaffen, war aber nie sein Herrscher.« Wenig später fügt er hinzu: »Bismarck gewann und behielt die Macht durch die Kraft und Brillanz seiner Persönlichkeit, aber er hing stets vom Wohlwollen des Königs ab.« Und weiter: »Bismarck brauchte weder Parlamentsmehrheiten noch Parteien. Sein Publikum bestand aus einem einzigen Mann.«18 Bismarck hatte sozusagen eine an seine Person geknüpfte Machtstruktur entwickelt, die sich hauptsächlich aus dieser abhängigen Herrschaftskombination heraus rechtfertigte. Mit Wilhelm I. war ein Auskommen möglich, mit Wilhelm II. definitiv nicht mehr. Letzterer wollte von Gottes Gnaden nochmals selbst Regie führen, Deutschland herrlichen Zeiten entgegen führen. Man könnte – kann man? – sagen, dass Bismarck es versäumt hat, diese Machtasymmetrie, die zu seinen Lasten ging, zu verhindern. Das Bismarck ’sche Regieren war auf ihn persönlich zugeschnitten. Das Reich ruhte auf Bismarcks Schultern – beziehungsweise eben gerade doch nicht! Wilhelm II. entschied 1890 die Machtfrage zu seinen Gunsten und damit zum Verhängnis des Reiches. Hat Bismarck hier nicht versäumt, etwas Grundlegendes rechtzeitig zu verändern? Man kann diese vielfach untersuchte Frage nur ganz entschieden bejahen.
Bismarck hatte genug damit zu tun, das so berühmte Jonglieren mit außenpolitischen Allianzen, Bündnissen und Koalitionen zu überblicken und zu gestalten. Aber innenpolitisch, verfassungsstrukturell gesehen, agierte der Jongleur fatalerweise blind! Sprechen wir von einer Kanzlermonarchie. Sie war zwar ein starkes Regiment, aber die Kanzlermonarchie blieb einzig von der Position des Kaisers abhängig: machtpolitisch gesehen ein Unding. Und mit Blick auf Wilhelm II. ein