Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Tilman Mayer
des Feudalismus plötzlich von einem Parvenü abhängig, der Deutschland »einen Platz an der Sonne«35 (Staatssekretär Bülow 1897) verschaffen wollte, eine Politik, die 1919 beziehungsweise mit Versailles endete. Disraeli und Gladstone in Großbritannien waren hier Bismarck voraus gewesen. So wurde Bismarck erstaunlicherweise letzten Endes ein Opfer des Wilhelminismus. Die parlamentarische Einbindung des Kanzlers, die Max Weber allzu spät erst einforderte – also die Beendigung der skizzierten Kanzlermonarchie – hätte Deutschland vermutlich auf einen anderen Kurs gebracht. Wilhelm II. hat die Kanzlermonarchie nicht länger mitgetragen.36
Die Betrachtung des Bismarck-Reiches im Kontext einer von westdeutschen Historikern fixierten Sonderwegsthese war sicherlich eine überspitzte Beurteilung37 der Entwicklung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die aus heutiger Sicht, in komparativer Betrachtung, nicht zu halten ist und zwischenzeitlich bezeichnenderweise kaum noch vertreten wird. Gerade die eindrucksvoll vergleichende Schrift von Christopher Clark zum Ersten Weltkrieg demonstriert auch im politikgeschichtlichen Bereich, wie sehr eine Abkehr von germanozentrischen Beobachtungen wichtig ist.38 Sonderwege gab es viele, aber es sind nationale Wege in der europäischen Vielfalt von Wegen. Gleichwohl entsteht Erklärungsbedarf in Deutschland, weil nun mal das Deutsche Reich Schiffbruch erlitten hat, und die anderen Regime zwar nicht gut, aber besser weggekommen sind, jedenfalls kein Versailles erfahren mussten. Deshalb ist die Frage meines Erachtens unumgänglich, ob das Versailles von 1919 noch irgendetwas mit Bismarck zu tun hat, ob es in seiner Macht gelegen hätte, Deutschland dieses Schicksal zu ersparen. Und alle Folgen, die sich aus Versailles dann entwickelten.
Es scheint mir unvermeidlich und angemessen zu sein zu fragen, aus welchen Umständen heraus und durch welche Weggabelungen es zu einer Fehlentwicklung Deutschlands gekommen ist, an deren Ende der Erste Weltkrieg stand. Es hilft auch nicht weiter, wenn man weiß, dass es im 20. Jahrhundert Antisemitismen in vielen Ländern Europas gegeben hat, zum Teil radikaler als in Deutschland; und wenn man andererseits festhalten muss, zu welchem Verbrechen der Antisemitismus eben doch in Deutschland führte.
In Übereinstimmung mit Bismarck können wir sagen, dass es zur Staatsräson des Deutschen Reichs gehört hatte, den Bestand zu wahren, sich die Lage in der Mitte Europas immer zu vergegenwärtigen; und sich die Befürchtungen ausländischer Mächte vor Augen zu führen, aus denen heraus um jeden Preis verhindert werden sollte, dass es zu Bündnissen gegen Deutschland kommt.39 Der berühmte cauchemar des coalitions, den Bismarck im Kissinger Diktat von 1877 seiner Nachwelt mit auf den Weg gab, trieb Bismarck zu Recht um – aber sicherlich keinen Wilhelm II., dessen mangelnder politischer Instinkt Deutschland zum Verhängnis wurde.40 Deutschland ist an diesem Wilhelminismus zugrunde gegangen, und nicht an einer Bismarck ’schen Realpolitik. »Bismarck hat in den zwei Jahrzehnten als Reichskanzler seine ganze Kraft daran gesetzt, vom Deutschen Reich die bedrohlichen Folgen seiner Gründung abzuwenden«, so beginnt Andreas Hillgruber seine Ausführungen über die Bismarck-Zeit (1871–1890).41 Bismarck hat nicht den Weltkrieg vorausgesehen,42 aber er hat vorausgesehen, dass Kriege gegen Deutschland geführt werden können und man mit dieser antideutschen Bündniskonstellation absolut rechnen müsste. Diesem Erbe waren seine Nachfolger nicht gewachsen und schon gar nicht der letzte Hohenzoller. Preußen hat diese unrühmliche Figur nicht verdient. Deutschland ist nicht an Preußen und nicht am preußischen Militarismus aufgelaufen, sondern an der Unfähigkeit seiner politischen Führung, an Mängeln seiner politischen Kultur und einer zu wenig beherzten Veränderung der Herrschaftsstrukturen einer Kanzlermonarchie.
Das nationalstaatliche Werk Bismarcks ist über die Katastrophe des 20. Jahrhunderts hinweg – strukturell-geografisch gesehen – noch immer, wenn auch in einer Schrumpfversion von 1990, wahrnehmbar. Es ist existent! Der deutsche Dualismus ist längst beendet, wenn auch um den Preis, dass Wien und Berlin nicht mehr zusammen gedacht werden können; sonstige dynastisch-reaktionäre Kleinstaatereien sind aber verschwunden. Die Okkupation nach 1945 hat das Land ebenso überstanden wie es einer glücklichen Fügung zufolge einer Morgenthauisierung entgangen ist; und sogar die Teilung der ganzen Nation war »nur« ein Transitorium. Deutschland hat durch seine Hybris, die mit dem Wilhelminismus begann, seine Größe verspielt und sich Bismarcks Maxime der Politik43, sich zu bescheiden, versagt. Deutschland hat zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts beigetragen, doch es hat in der Mitte Europas überlebt und es würde gut daran tun, realpolitisch als Macht der Mitte Europas seinen Weg zu finden – getreu der Räson Bismarcks, sich nicht in Europa zu isolieren.
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Bismarck – ein Monolith. Ein großes Wort. Als solcher erscheint er im Rückblick und aus der Ferne eigentlich auch als Unikat und Solitär. Bei näherer Betrachtung – Reflexionen – ändert sich der Eindruck ein wenig, steht er nicht allein, sondern eingebettet in Konstellationen und Bündnisse, war gar abhängig von Kooperationsbereitschaften vieler seiner Kollegen, denen er auch in seinen Erinnerungen ein Denkmal setzte.
Dennoch überragt Bismarck seine politische Klasse und seine Nachfolger; jedenfalls scheint es so, als ob seine große Gestalt noch im 21. Jahrhundert erkennbar ist und dazu einlädt, über sein Erbe nachzudenken.
Zu diesem Band
Eine eigene kleine Abhandlung mit einer breiten politikgeschichtlichen Expertise legt Peter März vor. Seine biografische, porträtorientierte Studie einer amts- und wirkungsgeschichtlichen Betrachtung und seine komparativ akzentuierte Analyse von vier Kanzlerschaften liefern einen tragenden Baustein dieses Bandes. Der Vergleich der vier Kanzler Bismarck, Bülow, Adenauer und Kohl zeigt, dass man Bismarck vielleicht als einen Monolith ansehen kann, der sein eigenes Profil absolut besitzt. März spielt die bekannten Faktoren einer Kanzlerdemokratie zur Analyse der vier Matadore durch. Dabei erwähnt er die schwierige politische Doppelexistenz des preußisch eingebetteten Reichskanzlers, er diskutiert die Rolle und das Verhältnis des Militärs zu Bismarck, er arbeitet die Stellung Bismarcks zu Reichstagsmehrheiten heraus, auf die es dem Reichskanzler zum Regieren ankommen musste, und er skizziert die Entwicklung einer Art Reichskanzlei, mit der Politik betrieben wurde. Wichtig ist auch die Erwähnung, wie sehr Bismarck einen Präventivkrieg, also die in der Gesellschaft diskutierte Sorge um künftige militärische Unterlegenheit – die Situation von 1914 –, ablehnte.
Eine verfassungsgeschichtlich und ebenfalls politikgeschichtlich angelegte filigrane Abhandlung liefert Hans Fenske. Als Verfassungsexperte – auch im Sinne der Verfasstheit einer politischen Ordnung – zeigt er den Verfassungsgebungsprozess im zweiten Reich und zuvor des Norddeutschen Bundes auf. Er kann nachweisen, wie sehr sich Bismarck um diese Verfassungsgebung des Norddeutschen Bundes persönlich bemühte: 17 der 64 Artikel waren von Bismarck entworfen worden. Konstitutionelle Regierungssysteme waren auch in Europa verbreitet, ein parlamentarisches gab es der Sache nach nur in Großbritannien und Belgien, dennoch kann man nach Fenske den Norddeutschen Bund als den verfassungsmäßig modernsten Staat im damaligen Europa bezeichnen. Fenske ist auch der Ansicht, dass es ein drastisches Fehlurteil (Wehler) bedeute, wenn man das Deutsche Reich als eine pseudokonstitutionelle autoritäre Monarchie bezeichne, in der die Parteien ohnmächtig gewesen sein sollen. Auch von einer Kanzlerdiktatur zur Zeit Bismarcks könne wahrlich keine Rede sein.
Längst untergegangen ist der in der deutschen Geschichte lange Zeit bestimmende deutsch-deutsche Dualismus. Golo Mann sprach von der ersten Teilung Deutschlands 1866. Ulrich Schlie schreibt zum Datum 1866 einen spannenden Essay und hält einleitend fest, dass in einem einzigen Gefecht entschieden worden war, ob Deutschland künftig von Berlin oder von Wien aus regiert werden würde. Bismarck hat nach der österreichischen Niederlage Österreich zu gewinnen versucht, was sich im Laufe der Zeit bis zum Zweibund von Preußen und Habsburg, von Deutschland und Österreich entwickelt hat, dessen Verdichtung allerdings vor dem Ersten Weltkrieg zur Nemesis wurde. Zu Recht erwähnt Schlie auch den Wettbewerb zwischen dem System Metternich und dem System Bismarck, der zeitversetzt ausgetragen wurde. Der Einschätzung von Ulrich Schlie, dass die Beschäftigung mit der von Preußen und Habsburg geprägten Vergangenheit verpasste Gelegenheiten zutage treten lasse, kann nur zugestimmt werden. Preußen und Habsburg seien auf ganz unterschiedliche Weise zu Opfern ihrer eigenen Geschichte geworden.
Der Beitrag von Werner Plumpe über Bismarcks