Eine Kindheit im Waldkindergarten. Stefan Lenz

Eine Kindheit im Waldkindergarten - Stefan Lenz


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reif noch schmackhaft sind und bald verfaulen. Wir haben dann junge Gelehrte und alte Kinder.“

      Gleichzeitig wird von Sozialpolitiker*innen die Kindheit als Ressource verstanden und vor Löchern in den Rentenkassen gewarnt, wenn die Anzahl der Beitragszahlenden in den nächsten Jahren weiter schrumpft. Eine gute Problembeschreibung kommt vom Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg. Hier hat Ulrich Bürger immer wieder vor dem demografischen Wandel gewarnt und die Auswirkungen auf die Sozialsysteme dargestellt1.

      Insofern ist nachvollziehbar, dass es darum geht, Kinder frühzeitig so zu fördern, dass sie erwerbstätig sein und die Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte meistern können. Dies ist ein neuer Fokus auf Kinder, den das 20. Jahrhundert so nicht gekannt hat.

      Der Waldkindergarten ist eher ein Synonym für eine andere Form der Erziehung. Wo Kinder noch Kinder sein dürfen, wo das freie Spiel und Bewegung sehr viel Beachtung finden. Vielleicht passt es aber auch in die Zeit hinein, weil viele Eltern, die ihr Kind in den Waldkindergarten geben, dies sehr bewusst entscheiden, auch, um die Voraussetzungen ihres Kindes für das spätere Leben zu verbessern. So genau werden wir es nicht sagen können, und sicherlich ist nicht alleine der Kindergarten für den Bildungs- und Lebenserfolg eines Kindes verantwortlich. Im Übrigen hat sich am Bildungserfolg in Deutschland laut PISA-Studien wenig verändert. Der Bildungserfolg eines Kindes hängt nach wie vor sehr stark von der Bildungsherkunft der Eltern ab. Hier konnte die öffentliche Erziehung noch wenig ausgleichen.

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      Auf dem Weg in den Waldkindergarten; Foto: Carmen Scheurich, Waldkindergarten Hirschhorn

      Mehr als 1.500 dieser „Kindergärten ohne Dach und Wände“ gibt es inzwischen in Deutschland – Tendenz steigend. Nicht nur Elternbefragungen, auch wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen die Gründe für die hohe Nachfrage und Zufriedenheit bei Familien, die ihre Kinder schon dort untergebracht haben: Der tägliche Aufenthalt in der freien Natur fördert die Entwicklung der kindlichen Motorik und Wahrnehmungsfähigkeiten; Kinder im Waldkindergarten sind gesundheitlich stabiler, haben ein stärkeres Immunsystem, weniger Unfälle und fallen sicherer. Sie sind auf die kommenden schulischen Anforderungen sogar besser vorbereitet als Kinder, die einen Regelkindergarten besucht haben – in der Mehrzahl der Bereiche werden sie besser benotet. Da Waldkindergärten überwiegend kein kommerziell produziertes Spielzeug mit „vorgeschriebener“ Bedeutung nutzen, sondern mit Naturgegenständen spielen, wirkt sich die Waldpädagogik auch auf die Sprachentwicklung unterstützend aus, weil sich die Kinder untereinander und auch mit den Erwachsenen häufiger über die Bedeutung von Gegenständen und das Spielgeschehen verbal austauschen. Im Waldkindergarten sind Kinder generell weniger lärmbelastet als in geschlossenen Räumen, das verringert die Stressbelastung von Kindern und Pädagog*innen. Und nicht zuletzt durch die aktuelle Klimawandeldiskussion gerät eine natur- und umweltsensible Erziehung immer stärker in den Fokus. Hier haben Waldkindergärten einfach einen nicht zu schlagenden Standortvorteil. Was will dieses Buch? Die Schweizer Pädagogin Margit Stamm fordert eine gute Kindertagesbetreuung. Ich bin davon überzeugt, dass Waldkindergärten einen Beitrag hierzu leisten können. Dieses Buch möchte Eltern und Kommunalpolitiker*innen ermutigen, sich mit dem Thema Waldkindergarten auseinanderzusetzen, und für die Idee werben. Es soll einen kleinen Einblick geben, was Eltern im Waldkindergarten erwartet, und sie darauf vorbereiten. Dieses Buch ist entstanden auf Basis des Praxiswissens eines Verantwortlichen der Kinder- und Jugendhilfe in Baden-Württemberg und zwei angrenzenden hessischen Städten, dessen Träger 17 Waldkindergärten und zwei Waldhorte betreibt. Wohlwissend, dass die bundesrepublikanische Kinder- und Jugendhilfelandschaft sehr heterogen ist und das Buch die gesamte Praxis nicht abbilden kann.

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      Eine Kindheit im Waldkindergarten; Archiv Postillion e. V.

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      Kinder lieben Matsch.

      Foto: Waldkindergarten Wilhelmsfeld

      WAS IST EIN WALDKINDERGARTEN

      Bei der Eröffnung des ersten Waldkindergartens in Wilhelmsfeld waren viele Senior*innen erst einmal verwundert – Kinder den ganzen Tag draußen? Aber schnell erinnerten sie sich an die eigene Kindheit, in der sie auch den ganzen Tag draußen waren. Die zunehmende Überbauung vieler Freiflächen haben dazu beigetragen, dass Kinder weniger in der Natur spielen können. Doch die Idee des Waldkindergartens ist nicht in Deutschland, sondern in Dänemark entstanden. In Dänemark baute Ella Flatau Mitte der 1950er Jahre den ersten anerkannten Natur- und Waldkindergarten. Deutschland folgte 1968, als die Wiesbadenerin Ursula Sube einen nie genehmigten Waldkindergarten aufbaute. Erst 1993 folgte der erste offizielle Natur- und Waldkindergarten in Deutschland in Flensburg. Die Kindergärten werden im Achten Sozialgesetzbuch bundesweit geregelt, aber für die Ausgestaltung sind die Länder zuständig, daher gibt es regional große Unterschiede in Bezug auf die Zulassung der Natur- und Waldkindergärten.

      In Deutschland gibt es mehrere Formen der Betreuung, in denen die Waldpädagogik umgesetzt wird. Im reinen Waldkindergarten verbringen die Kinder und Pädagog*innen den Tag im Wald und nutzen dabei einen bestimmten, räumlich abgegrenzten Bereich. Der Wald ist der Hauptaufenthaltsort für die Kinder und Pädagog*innen. Die Betreuungszeiten belaufen sich in der Regel auf vier bis sechs Stunden täglich an bis zu fünf Tagen in der Woche. Es gibt aber auch zunehmend Ganztageskindergärten, bei denen dann auch Ruheräume vorgehalten werden müssen. Feste Gebäude sind hier nicht die Regel, müssen aber zumindest erreichbar sein, um bei Sturm oder Gewitter geschützt zu sein. Jedoch verfügt jeder Waldkindergarten über einen festen Schutzraum, für den in den meisten Fällen ein Bauwagen dient. Die Varianten sind hier so groß, wie es Kindergärten gibt. Die Größe der zu betreuenden Gruppen umfasst meist 20 Kinder im Alter von drei Jahren bis zur Einschulung. Für die Aufsicht sind zwei Erzieher*innen und meist eine Aushilfskraft (z. B. Praktikum, Freiwilliges Soziales Jahr) zuständig. Hier ist der im jeweiligen Bundesland gültige Personalschlüssel verantwortlich.

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      Je nach Standort entstehen um den Bauwagen herum weitere Bauten.

      Von einem integrierten Waldkindergarten wird gesprochen, wenn die Waldgruppe in einen Regelkindergarten eingegliedert ist. Und auch hier gibt es viele Möglichkeiten – von festen Waldtagen für die jeweiligen Gruppen im Kindergarten oder von einer festen Waldgruppe, die fast jeden Tag im Wald ist. Auch bieten viele Kindergärten feste Projektwochen im Wald an.

      Beim Bauernhofkindergarten verbindet sich die Idee der Naturpädagogik mit der Idee der Versorgung der Tiere. In einer Zeit der Massentierhaltung möchten Bauernhofkindergärten den Bezug zur Landwirtschaft wiederherstellen. Eine Idee, die aus meiner Sicht Zukunft hat, leider oft daran scheitert, dass es nur wenig geeignete Höfe gibt, bei denen sich ein solcher Kindergarten andocken kann. Gerade in kleinen Dörfern könnte der Kindergarten das gesamte Dorf als Spiel- und Erfahrungsfläche nutzen. Das Dorf als Lebensraum wiederzuentdecken könnte auch zur Zukunft des Dorfes beitragen.

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      Foto: Melanie Ebert

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      Im Wald verstecken; Foto: Carmen Scheurich, Waldkindergarten Hirschhorn

      Waldkindergärten sind mittlerweile eine in Deutschland anerkannte Form der Kindertagesbetreuung. Dabei haben sich die Waldkindergärten selbst ausdifferenziert. Gerade in verdichteten Räumen, in denen es keinen Wald gibt oder dieser nicht für einen Kindergarten nutzbar gemacht werden kann, haben sich bereits andere Formen entwickelt. Das baden-württembergische Landesjugendamt, der Kommunalverband für Jugend und Soziales, der auch für die Betriebserlaubnis von Kindertageseinrichtungen zuständig ist, hat eine Broschüre herausgegeben, in der viele Regelungen zum Thema Waldkindergärten


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