Das Mädchen mit der Muschelkette. Peter Seeberg
Morgengrauen kam die Frau aus der Tür und schloß sie hinter sich. Sie ging durch eine andere Tür hinein, vielleicht in die Küche, diesmal ohne die Tür zu schließen, drinnen hörte man sie husten, und offenbar öffnete sie einen Fensterladen. Kurz darauf fing es an zu knistern, sie hustete stärker, wahrscheinlich wegen des Rauchs. Der Feuerschein fiel auf den Hof, und sie trat heraus und hustete. Sie hielt sich die Hand vor den Mund, schien sich dann an ihn zu erinnern und schaute hinauf, wo sie sein Gesicht sah. Sie war weder jung noch alt, stellte er fest, sie hatte sehr dunkles Haar und braune Augen. Sie sagte nichts zu ihm, senkte nur den Blick und schaute in den Hof. Sie lehnte sich an die Mauer, die Hände hatte sie auf dem Rücken gefaltet, um die Kälte des Steins von sich abzuhalten. Dann begann sie zu singen, ganz leise, lalala, sehr sehnsüchtig und für sich, aber auch für ihn. Als sie mit ihrem Gesang fertig war, blickte sie auf und lächelte ihm mit blitzenden Augen zu. Sie gefiel ihm gut, aber er erwiderte ihr Lächeln nicht.
Sie ging hinein, und er hörte das Klappern von Geschirr, jetzt sang sie auch an der Feuerstelle, innig und sehnsüchtig. Sie ging geschäftig hin und her, und das Feuer brannte noch nicht sehr hoch. Er sah ihren Schatten im Schein des Feuers. Sie kam nicht mehr heraus. Sie ließ ihn zufrieden. Das schätzte er.
Sie bereitete vermutlich Grütze zu, wie sie es nannten. Sie stopften sich voll mit Grütze, die Bauern und die Leute in der Stadt.
Jetzt trat auch der Mann heraus. Er rieb sich Gesicht und Augen. Er reckte sich und rülpste. Das Wesen der Nacht mußte raus. Er zog das Hemd nach oben, holte sein Glied heraus und pinkelte in kräftigem Strahl auf den Hof, wobei er darauf achtete, dem Rinnsal auszuweichen, das von der Lache abfloß. Er hielt sein Glied lange in der Hand und schüttelte es. Das hatte Arga-ir noch nie gesehen. Überall gab es Unterschiede, auch hier. Er brauchte keine Hand, um das Glied zu stützen. Kein Baummarder brauchte das. Ob sich auch der Onkel hier in der Fremde andere Gewohnheiten zugelegt hatte?
Dann ging der Mann in die Küche. Jetzt setzte ein Plaudern und Schwatzen ein, das mit dem Hellerwerden lebhafter wurde.
Auf den Straßen der Stadt erklang der Hufschlag von Tieren, und Menschen riefen, vermutlich trieben sie die Tiere an. Als er ein kleines Stückchen über die Mauer blicken konnte, sah er, daß die Tiere mit großen Bündeln und Säcken beladen waren, und Männer erschienen mit Vögeln, die an den Beinen zusammengebunden waren und mit dem Kopf nach unten an einem Stock hingen. An den Häusern öffneten sich die Läden, und Gesichter tauchten auf, einige mit verwunderten und vom Schlaf verdrehten Augen, Schlafgesichter, andere verdrießlich und bedächtig auf ein Dach oder einen Hofplatz spuckend. In einem Fenster zeigte sich ein schönes Frauengesicht, das in den Morgen starrte, sie hielt ein kleines Kind in den Armen, das sie schwungvoll wiegte, und das Kind schaute auf und bewegte eine freie, runde Hand und den Arm, befreite den zweiten Arm und steckte einen Finger in den Mund der Mutter, die hineinbiß und daran saugte. Der Große Bär erlosch am Himmelsgewölbe. In der Morgenrichtung streckte das Sonnenlicht seine Arme aus, er war im Schatten und beobachtete das Licht auf Wänden und Dächern.
»Arga-ir«, erklang es vom Fuß der Treppe, die er heraufgeführt worden war. Arga-ir. Das war die Stimme des Onkels, ihm fiel keine Falschheit auf. Aber darin lag ja gerade die Täuschung.
Er hörte den Onkel die Treppe heraufsteigen. Vorsichtig schob er die Tür auf.
Er merkte, daß der Onkel ihn verwundert betrachtete, wie er da am Fenster stand.
»Schläfst du nicht, Arga-ir«, fragte er und warf einen Blick auf das Lager, »hast du nicht geschlafen?«
Arga-ir wandte sich ihm zu. »Ich mache mich jetzt auf den Weg«, sagte er.
Die Augen des Onkels blickten aufgebracht und beunruhigt. »Den Winter über mußt du hierbleiben«, sagte er, »es wird kalt, bald wird es schneien, und der Frost kommt.«
»Der Frost hilft«, sagte Arga-ir, »da kommt man gut voran.«
»Du kannst nicht aus der Stadt«, sagte der Onkel, er war heiser geworden, »alle Tore sind dem, der flüchtet, versperrt.«
Arga-ir betrachtete den Onkel. »Du hast mir einen Namen gegeben, und du wirst mich auch nicht daran hindern, zurückzukehren«, sagte er.
Der Onkel schaute ihn an und zögerte. »Nein, ich werde dich nicht hindern.«
Er ging als erster die Treppe hinunter, gefolgt von Arga-ir.
2
Die Frau des Onkels stand, das Gesicht nach oben gewandt, am Fuße der Treppe, sie schaute am Onkel vorbei und herauf zu ihm und sprach mit sich selbst über ihn, das merkte er. Als er herunterkam und an ihr vorbeigehen wollte, legte sie einen Arm um ihn und strich ihm mit dem anderen Arm das Haar zurück, dabei betrachtete sie ihn prüfend und versuchte, seinen Blick zu fangen. Aber er schaute weg. Er blickte ihr nur einen kurzen Augenblick ins Gesicht und spürte, wie sie ein bißchen von seinem Wesen stahl, doch er hatte nichts dagegen. Wärme durchströmte ihn, aber sie wurde rasch aufgesaugt.
»Mi amice«, sagte sie und ließ ihn los. Sie biß in ihre Nägel und ging mit gesenktem Kopf den Gang entlang und in einen Hof, in dessen Mitte von einem großen Stein Wasser herunterplätscherte. Es war ein anderer Hof als der, den er in der Nacht gesehen hatte. Auf Mauern und auf Dächern saßen Vögel mit langen, gekrümmten Schwänzen, solche Vögel hatte er bei den Bauern an der Anlegestelle gesehen. Er zählte mindestens vier davon, jeder auf seiner Mauer oder seinem Dach, und sie legten den Kopf in den Nacken und schrien, als sagten sie kikeriki.
»Du mußt etwas essen, bevor du aufbrichst«, sagte der Onkel in der Sprache der Baummarder.
Er schüttelte den Kopf. Die Frau des Onkels sah ihn an. Sie schien auf einmal sehr weit weg und sehr klein zu sein.
»Der Steuermann wird dich begleiten«, sagte der Onkel. Er klatschte in die Hände, und der Mann, den er in der Nacht gesehen hatte, erschien am Ende des Ganges.
Der Onkel rief ihm etwas in der fremden Sprache zu, die die Ruderknechte sprachen. Dann verschwand er in einem Gemach, das er zuvor nicht gesehen hatte. Er ließ die Tür offen und kam gleich zurück. In der Hand hielt er zehn runde, helle Metallstücke, die er ihm hinstreckte, doch er wollte sie nicht nehmen.
»Das wird dir helfen, wenn du in Schwierigkeiten gerätst«, sagte der Onkel, »wenn du Hilfe brauchst oder wenn jemand dir feindlich gesinnt ist. Dann mußt du ihm einen, zwei oder drei von diesen Denaren«, so nannte er sie, »geben. Dann kommst du weiter, wirst losgelassen.«
Arga-ir schüttelte den Kopf. Der Onkel schaute ihn an, kramte dann in seinem Gewand und fand einen Beutel, in den er die Denare steckte.
»Das ist dumm von dir«, sagte der Onkel heiser. Er wischte sich über die Stirn und rieb sich die Augenwinkel. Er trat hinaus auf den Hof, stellte sich neben seine Frau und redete gedämpft mit ihr.
Sie schüttelte den Kopf, und mit einem Fuß, der unter ihrem langen Kleid herausschaute, scharrte sie am Rand einer Pfütze, die der Tau hinterlassen hatte. Die Hände hatte sie auf den Rücken gelegt, und sie schien zur Seite zu blicken, hin zu ihm, der sie nicht ansehen wollte.
Das Wasser plätscherte vom Stein herab. Die Vögel krähten. Von der Feuerstelle her ertönte Gesang. Man hörte, wie das Haustor aufgestoßen wurde und gleich darauf Schritte. Der Steuermann erschien und hinter ihm der Mann aus der vergangenen Nacht. Sie hatten den Schatten hinter sich.
Der Steuermann trat auf den Onkel zu und begrüßte ihn mit einer Handbewegung. Der Onkel zeigte auf ihn, »Arga-ir« hörte er ihn sagen.
Der Steuermann sah ihn lächelnd an. Er kam zu ihm hin, musterte ihn von oben bis unten und sagte in der Sprache der Baummarder: »Ich werde dich zu dem Stadttor bringen, das zur Heimat deiner Väter zeigt und zum Großen Bären. Wenn wir beim Tor sind, werde ich dir erklären, wie du gehen mußt, aber du hast viele Tagereisen vor dir, und unsere Priester«, so nannte er sie, »haben uns einen harten Winter vorausgesagt.«
»Laß uns gehen«, sagte er zum Steuermann. Er trat in die Mitte des Hofes und sagte: »Onkel, der Sohn deines Bruders, Arga-ir, geht.«
Die