Triumph der Gewalt. Karl Arne Blom
gehen wir auf jeden Fall nach Haus zu dir.“
Das hatte Rosén schon längst an der Zeit gefunden. Er saß im Eßzimmer auf dem Sofa und rauchte Franssons Zigaretten, als die beiden hereinkamen.
„Hier ist keine Menschenseele“, berichtete er.
„Du, Tommy“, sagte Fransson, „nun trinken wir eine Tasse heiße Schokolade, und dann kriechst du ins Bett, damit du morgen frisch und munter bist. Vergiß nicht, daß bald Weihnachten ist. Da muß man frisch und munter sein.“
„Kein Mensch ist im Hause“, sagte Rosén.
„Ja, das hörte ich schon. Tommy hat es ja erzählt.“
Gemeinsam kochten Fransson und Tommy die Schokolade. Nachdem alle ihre Tasse ausgetrunken hatten, meinte Tommy, es müsse eigentlich ganz schön sein, nun schlafen zu gehen. Er zeigte Fransson sein Zimmer, das eine Treppe höher lag, und bat den Polizisten, ihm etwas vorzulesen.
Tommy hatte noch keine fünf Seiten aus Andersens Schneekönigin vorgelesen, da gähnte Tommy laut, drehte sich auf die andere Seite, gab einen leichten Wind von sich und fiel in Schlaf.
Fransson schlich sich hinaus und schloß die Tür von außen ab.
Er blickte sich um.
Tommys Zimmer war der kleinste der drei Räume im zweiten Stock. Daneben lag das Schlafzimmer der Eltern, und am Ende des Flurs gelangte man durch eine Glastür ins Wohnzimmer. Hier stand an der einen Wand eine Polstergruppe: ein Sofa und Sessel aus schwarzem Leder um einen massiven Eichentisch. Das Fernsehgerät, eine Stereoanlage und der Teppichboden vervollständigten die gediegene Einrichtung.
Leise, um den Jungen nicht zu wecken, ging Fransson die Treppe hinunter.
Rosén saß in der Küche auf einem Schemel und trank Schokolade. Er zuckte zusammen, als sein Kollege eintrat.
„Schmeckt nicht gut, aber wärmt wenigstens“, sagte er. „Ich war ganz durchfroren.“
„Tu dir keinen Zwang an und trink du nur“, antwortete Fransson und setzte die Besichtigung fort.
Die geräumige Küche enthielt einen großen Tisch und eine Anrichte. In der Diele führte eine Tür in ein Arbeitszimmer.
Fransson betrachtete die Bücher auf dem Regal: ein paar Romane entdeckte er, die meisten aber waren Fachbücher über Architektur.
„Wenn du dir alles angeguckt hast“, sagte Rosén, „können wir wohl endlich weiterfahren.“
„O nein, wir warten, bis die Eltern nach Hause kommen“, entgegnete Fransson. „Möchte übrigens wissen, wie sie heißen ... “
„Das steht vermutlich auf dem Türschildchen.“
Fransson öffnete die Haustür und schaute nach: Lundberg.
Die Einrichtung im Reihenhaus der Familie Lundberg war gediegen und kostspielig. Die untadelige Ordnung im Haushalt zeugte von einer Hand, die oft abstaubte und sich beschäftigte. Das war auffallend.
Henry Lundberg war hager und trug einen Smoking. Er war ein wenig berauscht. Seine roten Haare standen wie ein Feuerschweif um den Kopf.
Alicia Lundberg war klein und mollig. Sie trug ein langes, auf beiden Seiten geschlitztes Kleid. Die blonden Haare umrahmten ein rundes Gesicht mit feinen Zügen. Um die Augen herum war sie stark geschminkt, und die rosigen Wangen verrieten, daß auch sie angeheitert war.
Beide sahen bestürzt aus, als sie die Polizisten erblickten, die in der Küche saßen und Schokolade tranken.
Fransson erklärte den Grund ihres Vorhandenseins.
Rosén sagte nicht viel.
„Sie meinen also, nur weil man Polizist ist, kann man einfach in ein Haus eindringen, wie es einem beliebt?“ polterte Henry Lundberg mit zorniger Miene.
„Mein Gott, ich habe Ihnen doch erklärt, wie es sich verhält“, gab Fransson zurück. „Ihr Sohn Tommy war mitten in der Nacht in die Kälte hinausgelaufen ... “
„Das hört sich unglaubhaft an“, fiel Alicia Lundberg mit scharfem Ton ein. „Wir sind nicht zum erstenmal ausgegangen. Er hat immer fest geschlafen, wenn wir fort waren, warum also nicht auch heute abend? Übrigens konnte er die Haustür gar nicht öffnen. Sollte er das auf einmal gelernt haben?“
„Wie er die Tür aufbekommen hat, weiß ich nicht“, sagte Fransson. „Jedenfalls ist es ihm gelungen, denn sie stand offen.“
„Verflucht und zugenäht“, schimpfte Lundberg, „wir waren nur für ein paar Stunden bei Bekannten ganz in der Nähe, und da kommt man nach Hause und stellt fest, daß die Polizei eingedrungen ist. Das ist doch verrückt!“
„Sie waren ganz in der Nähe?“ wiederholte Fransson verwundert.
„Ja, bloß sieben Häuser weiter. Und da finden wir Sie hier vor. Leben wir eigentlich in einem Polizeistaat?“
„Die Polizei glaubt wohl, sie darf sich alles herausnehmen“, zeterte Alicia Lundberg. „Gestapomanieren sind das, jawohl. Die jungen Leute, die demonstrieren, haben wahrhaftig recht. Einen Polizeistaat, genau das haben wir hierzulande!“
„Jetzt habe ich aber genug!“ platzte Rosén unvermittelt heraus. „Da kommen Sie besoffen nach Hause und unterstehen sich, meinen Kollegen zu schurigeln, der so freundlich war, sich um Ihren verlassenen Sohn zu kümmern. Sie bewerfen die Polizei mit Schmutz und benehmen sich wie ... wie ... Sie haben sich auf einer pinkelfeinen Gesellschaft mit teurem Alkohol vollaufen lassen und sich den Teufel darum geschert, daß Ihr Sohn aufwachen und so allein im Haus Angst bekommen könnte! Das Kind war Ihnen gleich, es interessierte Sie ja nur, sich mit Ihren Oberklassenfreunden zu amüsieren! Zum Kotzen finde ich das! Komm, Fransson, wir gehen.“
Es geschah selten, daß Rosén die Beherrschung verlor.
„Das hier ist kein sogenanntes Oberklassenviertel“, brauste Lundberg auf und funkelte Rosén an.
„Aber Sie gehören zu den reichen Scheißkerlen!“ brüllte Rosén.
„Ich warne Sie, nehmen Sie Ihre Worte in acht, sonst ... “
„Komm jetzt“, sagte Fransson, zog seinen zornroten Kollegen zur Tür und drängte ihn zum Haus hinaus.
Bevor er die Haustür hinter sich zumachen konnte, knallte Lundberg sie zu, daß es nur so krachte.
Henry Lundberg war dreiunddreißig Jahre alt, Alicia neun- undzwanzig. Er war Architekt, sie Hausfrau. Beide waren ganz gewöhnliche Menschen, die sich eine Villa leisten konnten. Man hätte nicht behaupten können, daß sie ihren Sohn bewußt vernachlässigten.
Das Zuknallen der Tür klang ohrenbetäubend.
Fransson, der auf dem Vorplatz verweilte, glaubte ein Kind weinen zu hören. Als ob der jähe Lärm es aus dem Schlaf geschreckt hätte. Als ob ihm angst und bange wäre.
Es war das erstemal, daß die Familie Lundberg mit der Polizei zu tun bekommen hatte.
Aber es war nicht das letztemal.
Die vier Gewalttaten
Im Frühling
Magnus Pettersson war klein und körperlich schwach. Im Jahr 1970 wurde er zwölf.
1965 war seine Mutter begraben worden. Sein Vater mußte fünf Tage in der Woche von sieben bis siebzehn Uhr auf dem Bau arbeiten. Samstags und sonntags war er selten nüchtern. Es war als notwendig erachtet worden, ihm das Sorgerecht für den Sohn zu entziehen.
Magnus wurde in Pflege gegeben.
Die Pflegeeltern waren liebe Menschen. Sie hatten nie ein eigenes Kind gehabt und konnten sich gar nicht genug an liebevoller Güte tun. Wahrscheinlich verwöhnten sie Magnus mehr, als sie es bei einem eigenen Kind getan hätten.
Von seiten der Pflegeeltern war das Verhältnis zwischen