Nur ein kleiner Verdacht. Sabine Howe
konnte er die ganze Nacht nicht schlafen. Das Hotel lag direkt neben einer Großbäckerei, in der ab vier Uhr die Öfen auf Hochtouren brummten und ab fünf die Laster zum Ausliefern an- beziehungsweise abfuhren. Dazu der Jetlag. Er suchte Hilfe in der Minibar, aber auch das brachte nicht die gewünschte Nachtruhe. Die Rede am nächsten Vormittag hatte er schließlich mit zwei Wodkas über die Bühne gekriegt. Glücklicherweise gehörte ein harter Drink am Morgen damals noch zur Tagesordnung. Danach blieben sie noch zwei Tage in der Stadt, aber auch der Rest der Reise verlief mehr als unerfreulich: Auf den Straßen lagen Berge von Schnee, überall herrschte Chaos. An Vergnügen war unter diesen Umständen nicht zu denken, zumal Karls junger Begleiter, ein Forschungsassistent aus der Serologie namens Jens Schöneich, sich als Kulturbesessener entpuppte, der in seiner Freizeit ein Museum nach dem anderen abklapperte. Wenn Karl mit seinem Teamkollegen Rolf unterwegs war, ließen sie es richtig krachen. Rolf war ebenfalls verheiratet und hatte ähnliche Vorstellungen von einem gelungenen Geschäftstrip wie Karl. Aber dieses Mal war an so etwas nicht zu denken. Herr Schöneich war seit einem Jahr verheiratet und erwartete sein erstes Kind.
„Wer weiß, wie lange ich dann aussetzen muss“, sagte er augenzwinkernd zu Karl, als er am letzten Tag wieder zu einem seiner Museumsmarathons aufbrach. „Mein Junge“, sagte Karl. „Wenn Sie eine Ahnung davon hätten, wie lange Sie mit anderen Dingen aussetzen müssen, würden Sie sich nicht mit fleischloser Kunst beschäftigen.“
Herr Schöneich machte nicht den Eindruck, als hätte er verstanden, worauf Karl anspielte.
„Also dann, bis nachher.“
Ein halbes Jahr später, bei einem Abteilungsempfang, kam Herr Schöneich leicht betrunken auf Karl zu und legte ihm die Hand auf den Arm. „Herr Nienstetten, hätten Sie nicht mal wieder eine Auslandsreise für mich?“
„Wohl länger nicht zum Zuge gekommen, was?“
„Kann man so sagen“, stöhnte Herr Schöneich.
„Tja, das hätte ich Ihnen gleich sagen können. Wenn erst das erste Kind auf der Welt ist, hat der Spaß ein Ende.“
Er verschaffte Herrn Schöneich einen Kongress in Thailand, aber für diesen Mann gab es keine Rettung. Er kehrte mit einer hübschen Thailänderin zurück, reichte die Scheidung ein und heiratete erneut. Er kapierte nicht, dass eine Ehe eine Sache und Spaß eine andere Sache waren.
Nachdem er sich auf seinen kleinen erfolglosen Streifzügen durch Vancouver auch sein zweites Paar Schuhe gänzlich ruiniert hatte, verbrachte er die letzten zwölf Stunden bis zu seinem Rückflug in seinem Hotelzimmer. Er zappte durch die Fernsehprogramme, schaute sich ein, zwei Bezahlfilme an, aber seine Stimmung blieb auf dem Niveau des Wetters. Und der süßliche Duft, der aus der Bäckerei über die surrende Klimaanlage in sein Zimmer drang, machte die Sache nur noch unerträglicher.
Wie erlöst sank er in die weichen Polster der Businessklasse der Lufthansa. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Aber der Geruch von Gebäck verfolgte ihn immer noch.
„Darf es etwas zu Knabbern sein“, fragte eine freundliche Stimme. Karl schlug die Augen auf und schaute direkt in ein Körbchen mit kleinen Brötchen.
„Ganz frisch gebacken“, warb die Stimme.
„Nein, danke“, sagte Karl und unterdrückte ein Würgen. „Haben Sie auch etwas Schärferes?“
„Zum Essen oder zum Trinken?“
Karl schaute auf und blickte in die strahlendsten blauen Augen, die er je gesehen hatte.
„Wenn Sie mich so fragen“, sagte er, „am liebsten zum Anfassen.“
Die Stewardess lachte. „Wie wäre es damit?“, fragte sie und hielt ihm ein warmes Frotteetuch hin. „Ist zwar nicht scharf, aber fasst sich gut an.“
Karl nahm das Tuch und wischte sich Hände und Gesicht ab. „Sie bringen mich ganz schön ins Schwitzen.“
„Kleine Abkühlung gefällig?“
„Einen Wodka, bitte.“
„Kommt sofort.“
Sie war deutlich jünger als er, vielleicht Ende zwanzig. Ihr blondes Haar war am Hinterkopf mit einer breiten Spange zusammengefasst. Karl fragte sich, wie es wohl offen aussah. An der Art, wie sie ihren prächtigen Hintern in Richtung Kabine bewegte, vermutete er ein leichtes Spiel. Sie war kokett. An ihrem Finger war kein Ring. Wahrscheinlich war sie nicht einmal gebunden. Zu viel unterwegs.
„Wo leben Sie?“, wollte er wissen, als sie ihm den Wodka auf Eis eingoss.
„In der Luft, zumindest die meiste Zeit.“
„Harter Job?“
„Mir macht es Spaß. Man sieht viel von der Welt.“
„Wenig Freunde.“
„Es geht.“
„Keinen Mann.“
„Im Moment nicht.“
„Und wie lange wollen Sie sich diesen Stress noch zumuten?“
„Bis mich jemand zur Landung zwingt.“
Der Rest war leichtes Spiel für Roger Rabbit. Er erkundigte sich bei der Lufthansa nach ihren Flügen und holte sie, wann immer sie in der Stadt war, vom Flughafen ab. Er mochte sie. Sie war unkompliziert, leicht zu begeistern und lachte gern. Eine Eigenschaft, die er bei Maggie stets vermisst hatte. Und: Sie hatte Spaß am Sex. Er begehrte sie, und sie genoss es. Sie liebte ihren Beruf und war viel unterwegs. Am Anfang war er ihr ab und zu nachgeflogen, und sie hatten ein paar Tage im Ausland verbracht. Doch auf Dauer sehnten sich beide nach ruhigeren Stunden. Er kaufte ihr eine Wohnung, sie wechselte auf kürzere Tages- beziehungsweise Wochenendschichten. Die ganze Geschichte spielte sich ein. Zweimal im Jahr fuhren sie für 14 Tage in den Urlaub. Das hatte sie gefordert.
„Ich will nicht jeden Morgen alleine aufwachen.“
Er musste das akzeptieren. Er hatte all die Jahre Dienstreisen unternommen, da fiel die eine oder andere zusätzliche nicht auf. Jutta wusste von Anfang an, dass er eine Frau für gewisse Stunden suchte und keine neue Ehefrau. Das hatte er gleich klargestellt, und sie verstand es. Alles war unkompliziert und wunderbar aufeinander abgestimmt.
Bis heute. Besser gesagt bis gestern Abend.
Karl steckte die Fotografie in den Rahmen hinter das Bild zurück und hängte es auf. Nein, wenn Maggie das Foto gefunden hätte, hätte sie es sicher an sich genommen, als Beweisstück. Er hatte nicht die geringste Idee, wie sie ihm auf die Schliche gekommen war, aber der Gedanke, dass sie in seinem Büro geschnüffelt hatte, machte ihn wütend.
Von nun an würde er abschließen.
Sein Magen knurrte.
„Gibt es heute nichts zu essen?“
„Doch, natürlich. In fünf Minuten.“
„Seit wann dauert es denn so lange, Möhrensuppe zu kochen?“
„Es dauert nicht länger als sonst, ich habe nur später angefangen.“
„Ich sterbe vor Hunger.“
„Ich tue, was ich kann“, sagte Maggie. Er war noch nicht ganz draußen, als er sie murmeln hörte: „Wenn es dir nicht gefällt …“
Karl drehte sich um. “Wie bitte?“
„Nichts …“
„Sag es ruhig!“
„Ich sagte doch, nichts“, murmelte Maggie.
„Was, wenn es mir nicht gefällt?“
„Schon gut.“ Maggie schaltete den Herd aus und füllte die Suppe in die weiße Suppenschüssel.
„Ich habe doch gar nichts gesagt.“
„Natürlich nicht. Du sagst ja nie etwas. Du deutest immer nur an. Das kennen wir ja schon.“
Schweigend löffelten