Ab 40 wird's eng!. Sylvia Kling
Honig (warum nicht Vollkorn, du dumme Pute?), eine Hühnersuppe (hm, ganz okay), ein Stück Kuchen (ist doch nicht wahr, oder? Buchstabiere das Wort K u c h e n!). Sei vernünftig, sei realistisch, es gab Tage, da hast du mehr gegessen, viel mehr, ganz viel mehr. Ich konstatierte: Das ist also der Grund! Du verfressene Kuh! Selbstzerfleischend beschimpfte ich mich mit allen Ausdrücken, die mir einfielen und rannte dabei mindestens zehn Mal ums Bett. Meine nassen Haare peitschten, wie zur Bestätigung meiner Hässlichkeit, an meine Wangen. Ich berührte sie kurz. Blöde Haare! Ach, wie liebte ich sie sonst, wie wurde ich beneidet um diese dicken, kastanienbraunen Haare. Ich setzte mich auf die Bettkante, jetzt noch mehr erschöpft. Haare, Haare, ja! Und mein Gesicht, klar! Die Rettung! Ja, ich war ein der Sonne zugewandtes Geschöpf (so glaubte ich jedenfalls immer), und so kam ich zu dem Entschluss aufzustehen und meiner Rettung entgegenzulaufen, mich selbst aus dem Schlamm zu ziehen und mich wieder zu mögen. Fahrig glättete ich das Babydoll-Oberteil, welches sich eigentlich durch den prallen Sitz auf meinem Körper als faltenlos entpuppte. Erleichtert bei dem Gedanken, dass ich ja im Bad nur mein Gesicht zu sehen bekam, lief ich mit energischen Schritten zum Waschtisch.
Ach, das Licht war noch aus. Mein Mann hatte am Spiegel eine Lampe angebracht, damit »Frau sich besser sah beim Schminken«, wie er sagte. Ich knipste das Licht an. Guter Dinge und mit dem noch ungebrochenem Willen, die Vernichtung meiner Schönheit vor einigen Minuten zu vergessen und Lügen zu strafen, öffnete ich die Augen. Es begann langsam, dieses Drama, aber es war nicht aufzuhalten. Erst sah ich meine einst großen, haselnussfarbenen Augen in einem Schattengebilde versinken. Das wiederum war umgeben von Krähenfüßen und einer durchdringenden, unübersehbaren Kraftlosigkeit. Dann sah ich hinab zu meiner Nase mit den zwei unterschiedlich großen Nasenlöchern, die mich bisher noch nie gestört hatten – bis heute. Heute war irgendwie alles anders, heute war ein Tag des Schreckens. Wurde meine Nase nicht immer größer und unförmiger? Ich sah eine Frau der Frauen vor meinem geistigen Auge, wie sie mir scheinbar zu tausenden täglich begegneten: nichtssagend, vom Leben geprägt, mit ausgeweinten Augen und lebensverschnupfter Nase. Doch das war noch immer nicht genug. Mein Blick wanderte weiter hinab, in der Erwartung, einen schönen, vollen und sinnlichen Mund zu erspähen. Jetzt kam der Schock. ›Oh, gleich falle ich um!‹, dachte ich noch. Ich fiel natürlich nicht, sondern blickte mit weit aufgerissenen Augen in dieses unverschämte Glas hinein. In Sekundenschnelle dachte ich an den Spiegel, damals bei Douglas, den die dick geschminkte Verkäuferin mir vorhielt, um mir ungerührt zu demonstrieren, dass meine Haut mitnichten so toll aussah, wie ich glaubte, und in der mir jede kleinste Unreinheit wie eine wuchtige Anhäufung einer schlammigen Masse erschien. Jener Spiegel, der mir klar machte, dass das teuerste Make-up noch nicht ausreichte, um wieder ansehnlich zu werden und meine eigene Abscheu zu überwinden.
Nun tat mir dieses Elend mein eigener Spiegel an, was für Desaster! Meine Mundwinkel fielen herab. Neben ihnen sah ich tiefe Kerben, die von Bitterkeit und Schmerz zeugten. »Ich habe schon einen Mund wie die Angela!«, rief ich aus und dieser Satz schallte durchs Bad. Warum musste mein Mann auch solch ein riesiges Bad bauen, mit einer solchen Akustik? Kein Mensch hatte so ein großes Bad. Mist, es ist doch alles Mist! Was soll ich denn mit der fremden Frau dort im Spiegel anfangen?
Wieder überrollte mich die nächste Erkenntnis wie ein Feuerball: Ich bin alt!
Der Tag war gelaufen. Nichts war wie sonst. Mein Lieblingstuch war immer noch das bordeauxrote, das ich mir zum meinem 44. Geburtstag gekauft hatte. Ich werde nie wieder einkaufen. Nie wieder! In meiner Größe gibt es doch nur Säcke. Ich kann doch nicht als Sack mein weiteres Leben fristen! Was machte man mit einem Sack? Man schmiss ihn in den Müll, erst recht, wenn er so alt und schwer war! Wer weiß, ob ich überhaupt jemals in diesem Leben noch einmal auf die Straße gehen werde?
Niemand wird mich ansehen können. Sie werden davonlaufen, werden sich ekeln oder über mich lachen, sie werden mich zu Ernährungsberatern schicken, zu jenen Leuten, die ich bisher in meinem jugendlichen Leichtsinn für völlig überflüssig hielt. Oder noch schlimmer: Sie werden mich fragen, ob ich mir schon Gedanken gemacht hätte, für meine Beerdigung zu sparen, so wie das eben alte Leute tun, um ihren Kindern nach dem Tod nicht zur Last zu fallen … Ich bin ja so was von am Ende! Mein Leben ist vorüber, alt, hässlich und zerknautscht wie ich bin.
Männer und Frauen oder der Sex
Mein Mann kam, obwohl dieser Tag nicht mehr so war wie alle anderen Tage, am Abend nach Hause. Julian war wie immer temperamentvoll und quirlig, quatschte ununterbrochen und kam nach dem Abendbrot ins Bett, um mit mir zu kuscheln. Der Kleine lag in meinen Armen, ließ sich kraulen und schnurrte wie ein Kater. Wenigstens das war wie immer, bis jetzt. Ich war heute nicht aus dem Haus gegangen, hatte meine Wohnung geputzt und keine Pause gemacht (wie stets, wenn ich nichts mit mir anfangen konnte oder mich unangenehme Gefühle überkamen, die ich nicht brauchte). An den Spiegeln lief ich vorüber, ohne auch nur einen noch so kurzen Blick hineinzuwerfen. Meine zutiefst verletzte Frauenseele litt still. Ich lenkte mich mit der Normalität der abendlichen Rituale ab und beruhigte mich damit ein wenig.
Doch dann legte Julian plötzlich die Arme in einem Moment des Gefühlsschwalls um mich und sagte mit lieblicher Stimme: »Oh, Mama …«. Ich dachte, jetzt kommt »Ich habe dich so lieb« oder »Du bist die beste Mama auf der ganzen Welt«. Doch da lag ich vollkommen falsch. Mein Kind sagte im vollsten Brustton der Überzeugung: »Du bist sooooooo schön (…) weich!« Was? Mir stockte der Atem. Das hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Ich war auch stolz darauf, nicht weich zu sein, sondern schlank (meistens war ich zu dünn, früher, ganz früher, viel, viel früher). In meinem Kopf hallten Julians Worte nach: »Du bist so schön …« (Nein, bis hierher ist der Satz perfekt, geradezu so, wie ich ihn gern hören wollte) »… weich«. Weich, dick, fett, unförmig, grottenfett, schwabbelnd, die beste Besetzung für die Hauptrolle in einer Monstershow für Übergewichtige und ich dachte an eine dieser überflüssigen Verdummungsserien »The Biggest Looser«. Jawohl, da kann ich mich anmelden! Eine Keule landete auf meinem Kopf. »Süßer …«, fragte ich den Kleinen mit lauerndem Blick, »wie meinst du denn das?« (Das arme Kind, gefangen im Klimakteriumswahn seiner Mutter!) Julian sah mich an, stutzte kurz und meinte ganz unbefangen (ja, warum auch nicht, ist doch auch nichts weiter dabei, oder?): »Na, dass du eben schön weich bist. Dein Bauch ist schön weich und ich kann bei dir so schön kuscheln, alles ist warm und weich.« Und um seine Worte zu unterstreichen, klammerte er sich wie ein Äffchen an mich und schien in mir und meinen Leibesmassen verschwinden zu wollen. Mein Körper spannte sich an, alle Muskeln strafften sich. In mir kochte die Erkenntnis, die erst einige Stunden alt war, von neuem auf und schien mich überrollen zu wollen. Das Glück dieses Abends? Ich war viel zu sehr Mutter, um das Julian zu zeigen (und dazu noch eine beinahe begnadete Schauspielerin) und so herzte und küsste ich ihn und schloss meine Gefühle weg. Ich trug es mit der Fassung einer erwachsenen Frau (ach ja?). Leider war es für Putzen schon zu spät.
Die Seifenopern füllten meinen Kopf mit neuen unbrauchbaren Informationen und ich begann, mich das erste Mal an diesem Tag, richtig zu entspannen. In der Werbepause gingen Harry und ich in die Küche, um unserem Laster nachzugehen. Ich atmete den Rauch tief ein und stöhnte. Mein Mann sah mich an (warum kannte er mich nach diesen gemeinsamen Jahren schon so gut?) und sagte: »Schatz, was ist los mit dir?« »Nichts«, meinte ich, mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, es war alles andere als nichts, es war alles. Doch ich befand mich im Tunnel meiner Ausweglosigkeit. Als wir wieder im Bett lagen, wollte er mich streicheln. »Nicht!«, brummte ich. Es war nicht gerade so, dass ich dieses Wort sonst nie aussprach. Aber diesmal hatte es einen besonderen Ton, der keinen Widerspruch duldete. Es war ein Verbot, kein einfaches »Nicht«. »Was ist, sag doch mal bitte«, bohrte Harry. »Nur wenn ich mal nicht angefasst werden will, heißt das noch lange nicht, dass irgendetwas sein muss!«, entgegnete ich aggressiv. Na, was denn? War ich vielleicht eine Puppe, an der man so herumstreichelte, wie man wollte? Nein, war ich nicht. Punkt. Mein Mann verzog das Gesicht, sagte: »Ist ja gut« und drehte sich von mir weg.
Das gefiel mir auch wieder nicht. Er musste sich schon etwas intensiver um mich bemühen und nicht gleich aufgeben. Wo gab es das denn? (Na, bei Männern, wo sonst?) Es vergingen wenige Minuten. In mir kochte es immer noch oder schon wieder. »Ich bin fett geworden!«, platzte ich heraus. Harry drehte sich wieder zu mir um und lächelte. (Was gibt es denn dabei zu lachen? Ich finde das gar nicht lustig!)