Jung und verliebt im Landschulscheim. Marie Louise Fischer
dieses Jahr zu einer Kreuzfahrt durch die Karibik eingeladen. Die ging von Nassau aus. Nassau ist die Hauptstadt der Bahamas, wie ihr wissen solltet. Erst also eine Kreuzfahrt …“
„Mit einem Segelboot?“ fragte Leona dazwischen.
„Nein, das wäre viel zu gefährlich. In der Karibik soll es jede Menge Piraten geben. Wir sind auf einem griechischen Dampfer gefahren, der,Aquarius’, acht Tage lang, und dann noch eine Woche in einem tollen Hotel in Nassau geblieben. Nur die letzten Tage war ich diesmal bei Alma.“ Da die beiden anderen sie immer noch aus großen Augen anstarrten, fügte sie rasch hinzu: „Aber ihr braucht mich nicht zu beneiden. Es war lustig, das ist wahr. Doch ein richtiges Weihnachtsfest mit Vater und Mutter ist etwas ganz anderes.“
Ute lachte. „Ja, da knallen die Türen und fliegen die Fetzen.“
„Bei uns war es richtig gemütlich“, sagte Leona.
„Da hast du Glück gehabt. Ich habe die Weihnachtszeit, wenn plötzlich die ganze Familie aufeinander hockt und keiner eine richtige Beschäftigung hat – außer der Mutter versteht sich, die immerzu etwas Gutes auftischen soll – immer ziemlich schwierig gefunden.“
„Wann steht denn deine Mutter in der Küche?“ fragte Leona.
„In der Weihnachtszeit ebent!“ Ute sprach nicht berlinerisch, sondern hochdeutsch, aber manchmal entschlüpfte ihr doch ein berlinerisches t an dem Wörtchen eben, das dort gar nicht hingehörte.
Leona und Sabine lachten.
Ute, die nicht wußte, warum, fügte hinzu: „Dann fühlt sie sich bemüßigt. Sie redet dann auch dauernd davon, was für eine wunderbare Kindheit sie gehabt hat, und wie sehr sie sich bemüht hat, mir eine wunderbare Kindheit zu schenken, aber natürlich, da war immer das Theater, das an ihren Kräften gezehrt hat. Sie hat sich sozusagen zwischen ihrem Beruf und ihren Pflichten mir gegenüber zerfetzt.“ Utes wunderschöne, tiefblaue Augen hatten sich verdunkelt, sie seufzte schwer. „Ziemlich schlimm, wenn sie mit dieser Masche kommt.“
Leona legte ihr den Arm um die Schultern. „Nimm’s nicht tragisch. Jetzt bist du ja bei uns.“ Sie dachte, wie sehr sie doch um ihre jungen, fröhlichen Eltern zu beneiden war.
Alma kam zurück und riß sofort die Oberleitung des Unternehmens an sich. Sie verteilte Gepäckstücke und Skistöcke, und zu viert war der Transport dann auch kein Problem mehr. Das Schleppen hinderte sie auch nicht daran, sich gegenseitig von ihren Erlebnissen aus den Weihnachtsferien zu erzählen, die alle auf ganz verschiedene Art verbracht hatten.
Leona war die erste, der es auffiel, daß mehr geredet als zugehört wurde. „Wißt ihr was“, schlug sie vor, „spart euch jetzt mal euren Atem! Ute und ich laden euch für heute abend ein … zu einer Ankunftsparty auf unserem Zimmer.“
„Einverstanden!“ sagte Alma sofort. „Aber bei uns ist mehr Platz.“
„Dafür steht das dritte Bett bei euch im Weg!“ widersprach Leona. „Nein, diesmal wird bei uns gefeiert!“
„Wenn ihr darauf besteht“, sagte Sabine.
„Ja, tun wir“, unterstützte Ute ihre Stubengenossin.
Sie brachten das Gepäck in das Zimmer von Alma und Sabine, ein Dreierzimmer, in dem die beiden nur durch einen glücklichen Zufall zu zweit hausten. In ihrem ersten Halbjahr in Rabenstein hatte Leona bei ihnen gewohnt. Ihre Eltern hatten es so gewollt, weil es ihnen als eine gute Kur erschienen war, sie aus ihrer Einzelgängerhaltung herauszuholen. Diese ziemlich harte Kur hatte Erfolg gehabt, weil Sabine und Alma sich sehr viel Mühe mit ihr gegeben hatten. Dennoch hatte Leona aufgeatmet, als sie in ein Zweierzimmer ziehen durfte, und Sabine und Alma waren nicht weniger froh gewesen, wieder allein zu sein.
Jetzt standen die vier Mädchen in diesem Dreierzimmer mit dem Blick auf den schneebedeckten Hang noch eine Weile herum, holten Luft und redeten über dies und jenes, bis Sabine den Reißverschluß ihrer Reisetasche aufzog.
Darauf sagte Leona: „Bis später dann! Wir müssen auch auspacken!“ Sie wandte sich zur Tür, und Ute folgte ihr.
Aber sie kamen nicht weit, denn ehe sie die Tür öffnen konnten – sie war nicht geschlossen, sondern nur sorglos angelehnt gewesen – wurde sie von außen aufgerissen, und Klaus Voss schubste einen mageren, großen, dunkelhaarigen Jungen herein.
Sekundenlang waren die Mädchen starr und wußten nicht was sie davon denken, noch weniger, was sie dazu sagen sollten.
„Das ist dein Zimmer, Gaston!“ behauptete Klaus Voss, der sich denkbare Mühe gab, dabei so ernst wie möglich zu bleiben. „Dies ist dein Bett!“ Er wuchtete eine Reisetasche auf das freie, nicht überzogene, sondern mit einer Tagesdecke bedeckte Bett. „Darf ich dir deine Zimmergenossinnen vorstellen … nein, nicht die schöne Ute, das könnte dir so passen! Dies ist Alma und dies ist Sabine … mit den beiden wirst du wohnen.“
Die Mädchen hatten inzwischen begriffen, daß Klaus sich einen alten, oft durchexerzierten Witz erlaubte: Ein neuer Junge wurde in den Mädchentrakt, beziehungsweise ein neues Mädchen in den Jungentrakt geführt, nur um sich an deren dummem Gesicht zu weiden. So alt der Spaß auch war, wurde er doch immer wieder bejubelt. Die Mädchen mochten ihn Klaus, der ja allerlei damit riskierte – zumindest ein Heimfahrtswochenende –, nicht verderben und machten unschuldsvolle Gesichter. Interessiert beäugten sie den neuen Jungen.
Der stand starr und steif mitten im Raum, umklammerte den Griff seines Koffers, den er nicht einmal absetzte und stieß hervor: „Je ne veux pas!“
Die Mädchen hatten im Herbst als zweite Fremdsprache Französisch bekommen und hätten ihn wohl verstehen können.
Aber sie waren so perplex, daß sie ihn und sich gegenseitig fragten: „Was sagt er?“ – Was ist los?“ – „Was hat er gesagt?“
„Ich … will nicht!“ wiederholte Gaston in gequältem Deutsch.
„Was willst du nicht?“ fragte Leona, jedes einzelne Wort überdeutlich aussprechend.
„Mit Mädchen schlafen!“
Sie guckten den neuen Jungen an und konnten nicht länger an sich halten; sie platzten vor Lachen. Im Nu füllte sich das Zimmer. Ilse Moll stürzte herein, nach ihr kamen Marga und Claudia. Alle starrten den großen, dunklen Jungen an, der nicht in die Mädchenzimmer gehörte, und schütteten sich aus vor Lachen. Natürlich lachte Klaus Voss, der den Spaß inszeniert hatte, am meisten.
„Ich ’asse Weiber!“ schrie Gaston in das Gelächter hinein.
„Nun übertreib aber mal nicht“, erwiderte Ute seelenruhig, „erst mal sind wir keine Weiber, sondern Mädchen, und zweitens kann man uns mögen oder auch nicht … aber uns zu hassen besteht wirklich kein Grund.“
„Wenn du keine Mädchen magst“, fragte Alma, „warum bist du dann hier?“
„Wirklich“, stimmte Leona zu, „dann hättest du lieber ins Landerziehungsheim Marquartstein gehen sollen. Da haben sie bloß ein paar Externe.“
Gaston rang um Worte: „Ich ’atte keine Wahl. Mein Papa ’at mir keine Wahl gelassen. Er ’at mich gezwungen …“
„Ach, das alte Lied.“ Leona zuckte die Achseln. Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie Klaus sie bei ihrer Ankunft auf Rabenstein in das Zimmer von Hellmer Theiss geführt, was sie damals gar nicht lustig gefunden hatte. Aber jetzt genoß sie den Scherz, weil er nicht auf ihre Kosten ging. „Armer kleiner Junge. Wie leid du mir tust. Ich könnte vor Mitleid weinen. Welch schreckliches Schicksal, mit Amsi und Sabine in einem Raum hausen zu müssen.“
Mit dieser spöttischen Bemerkung erntete sie dankbaren Beifall.
„Kann ich denn nicht ’aben einen Raum für mich allein?“ rief Gaston erbittert.
„Leider nicht, mein lieber Junge!“ Ute schwänzelte vor ihm her und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze. „Einzelgänger sind auf Rabenstein unerwünscht. Wir hier legen Wert