Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Margarete Bolten
Toddlers and Families 1994 erstmals ein multiaxiales Diagnosesystem zur Klassifikation psychischer Auffälligkeiten bis zum vollendeten dritten Lebensjahr eingeführt (DC: 0-3) und 2016 überarbeitet. Die aktuell gültige Fassung der Diagnostic Classification of Mental Health and Developmental Disorders of Infancy and Early Childhood (DC: 0-5, 2016, 2019) ist für Kinder bis zum vollendeten fünften Lebensjahr geeignet und berücksichtigt im Vergleich zu den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-5 in höherem Maße altersspezifische Besonderheiten und entwicklungspsychologische Zusammenhänge von Verhaltensstörungen in dieser Altersspanne. Insbesondere die schnellen Veränderungen in der sozioemotionalen Entwicklung und die hohe Relevanz des Beziehungssystems der Kinder in diesem Altersbereich werden bei der Diagnosevergabe mit beachtet.
Das multiaxiale Klassifikationssystem DC:0-5 beibehaltet fünf Achsen. Dabei werden auf der Achse I die klinischen Diagnosen kodiert, wobei acht Störungskategorien unterschieden werden: die Neurobiologische Entwicklungsstörungen, Sensorische Verarbeitungsstörungen, Angststörungen, Affektive Störungen, Zwangsstörungen und verwandte Störungen, Schlafstörungen, Essstörungen der Kindheit, Schreistörungen der frühen Kindheit, Trauma-, Belastungs- und Deprivationsstörungen der frühen Kindheit und die Beziehungsstörungen. Die Achse II umfasst den Beziehungskontext. Dabei wird zum einen die Beziehungsqualität zur primären Bezugsperson eingeschätzt und zum anderen die Qualität der Führsorge-Umgebung. Die Diagnostikerin hat hier die Möglichkeit die Beziehung mittels einer 4-stufigen Skala einzuschätzen (Level 1 = gut adaptierte Beziehung, Level 2 = angespannte Beziehung, Level 3 = beeinträchtigte Beziehung, Level 4 = gestörte bis gefährliche Beziehung).
Auf der Achse III finden sich medizinische Krankheiten und Faktoren, die die psychische Gesundheit direkt oder indirekt beeinflussen können. Komplikationen in der Schwangerschaft oder perinatal werden ebenfalls auf Achse III berücksichtigt. Auf Achse IV werden die psychosozialen Belastungsfaktoren mit Hilfe von Kategorien und spezifischen Stressoren erfasst. Psychosoziale Faktoren beinhalten akute Ereignisse als auch andauernde Umstände wie z. B. Armut oder häusliche Gewalt. Stressoren können zudem direkt (z. B. Hospitation) oder indirekt (z. B. plötzliche Krankheit eines Elternteils) vorliegen. Auch Übergänge oder normale Ereignisse, wie die Geburt eines Geschwisters oder ein Umzug, können stressreich sein. Achse V beschreibt Entwicklungskompetenzen. Dabei werden die folgenden Entwicklungsbereiche berücksichtigt: die emotionale, soziale, sprachliche, kognitive, als auch die motorische und körperliche Entwicklung. Für die Einschätzung beinhaltet das DC:0-5 eine Übersicht an Meilensteinen der Entwicklung für das Alter von 3 bis 60 Monaten.
Entsprechend der Erweiterung der Altersspanne, für welche das DC: 0-5 anwendbar ist, wurden neue Störungsbilder für Kinder bis zum fünften Lebensjahr eingeschlossen. Bezüglich des Altersbereiches zwischen 0 und 3 Jahren gab es folgende Anpassungen.
Die zwei wohl wichtigsten Veränderungen von der DC: 0-3R zur DC: 0-5 sind, dass zum einen der Altersbereich auf die ersten fünf Lebensjahre erweitert wurde und damit auch einige neue Störungskategorien neu hinzugenommen wurden. Zum anderen sind die diagnostischen Kriterien in der DC: 0-5 nicht mehr als Fließtext, sondern mit eindeutigen Kriterien beschrieben, was die Klassifikation deutlich erleichtert und somit auch die Reliabilität des Klassifikationssystems erhöht. Evaluationsstudien zum DC: 0-5 liegen bisher noch nicht vor und auch zu den Vorgängerversionen (DC: 0-3R, DC: 0-3) gibt es nur wenige Untersuchungen (z. B. Skovgaard et al., 2005; Wiefel et al., 2005). In der Studie von Skovgaard et al. (2005) beispielsweise beurteilten drei Kinder- und Jugendpsychiaterinnen die Krankenakten von 116 eineinhalb jährigen Kindern und ein 10-minütiges Fallvideo. Die Untersucherinnen waren dabei verblindet für die jeweilige Diagnose der Kinder. Die Autorinnen berichten Kappa Werte von k = .72 für die Achse I Diagnosen, k = 1.0 für die Achse II Beziehungsklassifikationen, k = .71 für die auf Achse III kodierten medizinischen Probleme, k = .55 für die Klassifikation der psychosozialen Stressoren auf Achse IV und k = .71 für die Klassifikation der funktionell-emotionale Entwicklung auf Achse V des DC: 0-3. Diese Ergebnisse zeigen, dass psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten, die nach den Kriterien der DC: 0-3 Klassifikation diagnostiziert wurden, im Vergleich zur ICD-10 reliabler klassifiziert werden können.
In der Anwendung der DC: 0-3 fanden sich jedoch auch einige Schwierigkeiten. So berichten beispielsweise Wiefel et al. (2005) besonders bei der Klassifikation von Fütterstörungen, aber auch bei der Abgrenzung der einzelnen Subtypen der Regulationsstörungen von Problemen. Für die Bindungsstörungen wurden ebenfalls ausführlichere Kriterien gefordert.
1.4.1 Klassifikation des Exzessiven Schreiens
Sowohl die ICD-10 als auch das DSM-5 bieten keine Klassifikationsmöglichkeiten für frühkindliche Regulationsstörungen und damit auch nicht für das exzessive Schreien. Daher kann im Säuglingsalter mit beiden Klassifikationssystemen exzessives Schreien nicht angemessen klassifiziert werden. Die einzige, allerdings unbefriedigende Möglichkeit ist die Vergabe der Diagnose einer Anpassungsstörung mit Exzessivem Schreien (F43.2). Eine solche Störung wird diagnostiziert, wenn eine identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß vorliegt, die Symptome und Verhaltensstörungen wie bei anderen Störungen vorliegen und diese Symptome nicht länger als sechs Monate nach Beendigung der Belastung andauern.
Diagnostische Kriterien der Anpassungsstörungen ICD-10, F43.2
A. Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats.
B. Symptome und Verhaltensstörungen, wie bei F3 (außer Wahngedanken und Halluzinationen), F4 oder F91, die Kriterien einer einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt.
C. Die Symptome dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen an, außer bei der längeren depressiven Reaktion (F43.21).
Diagnostische Kriterien der Anpassungsstörung nach DSM-51
A. Die Entwicklung von emotionalen oder behavioralen Symptomen als Reaktion auf einen identifizierbaren Belastungsfaktor, die innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Belastung auftreten.
B. Diese Symptome oder Verhaltensweisen sind insofern klinisch bedeutsam, als sie eines oder beide der folgenden Kriterien erfüllen:
1. Deutliches Leiden, welches unverhältnismäßig zum Schweregrad und zur Intensität des Belastungsfaktors ist, nach Berücksichtigung des externen Umfelds und kultureller Faktoren, die den Schweregrad und das Beschwerdebild der Symptome beeinflussen können.
2. Bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen, [beruflichen] oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
C. Das belastungsabhängige Störungsbild erfüllt nicht die Kriterien für eine andere psychische Störung und stellt nicht nur eine Verschlechterung einer vorbestehenden psychischen Störung dar.
D. Die Symptome sind nicht Ausdruck einer gewöhnlichen Trauerreaktion.
E. Wenn die Belastung oder deren Folgen beendet sind, dauern die Symptome nicht länger als weitere 6 Monate an.
Bestimme, ob:
F43.21 Mit Depressiver Stimmung: Gedrückte Stimmung, Weinerlichkeit oder Gefühle der Hoffnungslosigkeit stehen im Vordergrund.
F43.22 Mit Angst: Nervosität, Sorgen, Überspanntheit oder Trennungsangst stehen im Vordergrund.
F43.23 Mit Angst und Depressiver Stimmung, Gemischt: Eine Kombination von Depression und Angst steht im Vordergrund.
F43.24 Mit Störung des Sozialverhaltens: Eine Störung des Sozialverhaltens steht im Vordergrund.
F43.25 Mit Störung der Emotionen und des Sozialverhaltens, Gemischt: Sowohl emotionale Symptome (z B Depression, Angst) als auch eine Störung des Sozialverhaltens stehen im Vordergrund.
F43.20 Nicht Näher Bezeichnet: Für unangepasste Reaktionen, die sich nicht als eine der spezifischen Subtypen der Anpassungsstörung