Im Untergrund. Will Hunt

Im Untergrund - Will Hunt


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trafen uns an einem Nachmittag zu einer Erkundungstour durch die Bronx; Steve plante eine Exkursion durch ein altes Abwasserrohr. Er war sechs oder sieben Jahre älter als ich, mit hellen Haaren, blauen Augen und dem langgliedrigen Körperbau eines Kletterers. In seinem ersten Studienjahr hatte er angefangen, New York illegal zu erforschen; an seiner Uni, der Columbia University, schlängelte er sich durch ein Netzwerk von Dampftunneln unterhalb des Campus. Eines Nachts zwängte er sich durch einen Entlüftungsschlitz und fand sich in einer Kammer voll eingestaubter wissenschaftlicher Instrumente wieder. Es war der Geräteraum des ersten Vorläufers des späteren Manhattan-Projekts – die Entwicklung der Atombombe. Die bauchige grüne Maschine in der Mitte des Raums war der Original-Teilchenbeschleuniger: ein seltsames Juwel der Geschichte, knapp außerhalb unserer Sichtweite.

      Die Sache ließ ihn nicht mehr los, und Steve wechselte kurzerhand das Studienfach, von Ingenieurswissenschaften zu urbaner Geografie und Geschichte. Wenn er nicht studierte, erforschte er erst die Eisenbahntunnel, später zog er Anglerstiefel über und stapfte durch Abwasserkanäle, bald danach kletterte er auf die Pfeiler von Hängebrücken, wo er beeindruckende Bilder der Stadt aus der Vogelperspektive schoss. Im Lauf der Jahre kultivierte er sein Image als Guerillahistoriker und Underground-Fotograf, der mit einer beunruhigend detaillierten Kenntnis der städtischen Infrastruktur aufwarten konnte. (Die New Yorker Umweltschutzbehörde, die für die Überwachung der Kanalisation zuständig ist, hat immer mal wieder versucht, Steve anzuheuern, trotz seiner illegalen Forschungsmethoden.) Steve bewegte sich irgendwo zwischen Nerd und Outlaw: Er war dünn, hatte letzte Überbleibsel eines kindlichen Sprachfehlers, trank wie ein Seemann, wickelte mit seinem verwegenen Lächeln die Frauen um den Finger und hatte ein Auftreten wie ein Superheld. Als junger Mann war er an einer seltenen Form von Knochenkrebs im Bein erkrankt und wäre beinahe daran gestorben. Diese Erfahrung schien allem, was er tat, eine besondere Dringlichkeit zu verleihen. Er konnte den Abend mit einem Vortrag über die Bedeutung der verschiedenen Abkürzungen auf den New Yorker Gullydeckeln oder über die Veränderungen der Durchflussrate in europäischen Abwassersystemen des neunzehnten Jahrhunderts verbringen, und dann in der nächsten Bar in eine Schlägerei geraten.

      An jenem Nachmittag bewegten wir uns im Zickzack von einem Gullygitter zum nächsten, leuchteten mit den Taschenlampen nach unten und folgten dem Verlauf eines Abwasserrohrs. Im Gehen schwärmte Steve mit der Begeisterung eines Frischverliebten von den Puzzleteilen, aus denen sich die unsichtbaren Systeme der Stadt zusammensetzten. Für ihn war New York ein riesiger, sich ständig verändernder Organismus mit vielen Tentakeln, von dem Oberflächenbewohner nur einen winzigen Ausschnitt wahrnahmen. Er sah es als seine Aufgabe, die Verbindung der Menschen zu den verborgenen Aspekten der Welt herzustellen: Er wünschte sich, jeder Kanaldeckel wäre aus Glas gemacht, damit die Stadtbewohner überall in die Tiefe schauen konnten.

      »Die meisten Leute bewegen sich in zwei Dimensionen durch die Welt«, sagte er. »Sie haben keine Ahnung, was unter ihnen los ist. Wenn man weiß, was unter der Erde passiert, versteht man, wie eine Stadt funktioniert. Aber es ist mehr als das. Man versteht, wie man selbst in die Geschichte der Stadt passt und welchen Platz man in der Welt einnimmt.«

      Steve war für mich eine Verkörperung des Hermes – er war in der Lage, eine parallele Topografie wahrzunehmen. »Ich glaube, auch viel Unsichtbares ist hier«, schrieb Walt Whitman in Grasblätter. Steve sah das Unsichtbare – und ich wollte es auch sehen.

      Mein erster Abstieg führte mich nicht sehr tief: eine Wanderung durch den West Side Tunnel – bei Urbexern und Graffitikünstlern als Freedom Tunnel bekannt –, der vier Kilometer lang unter dem Riverside Park an der Upper West Side in Manhattan verläuft.

      An einem Sommermorgen schlüpfte ich durch einen Schlitz im Maschendrahtzaun nahe der 125th Street und betrat die große, an die sieben Meter hohe und doppelt so breite Tunneleinfahrt. In diesem Tunnel war es nicht richtig dunkel, eher dämmrig: Alle dreißig Meter öffnete sich in der Decke ein viereckiges Belüftungsgitter, durch das gedämpft Lichtstrahlen einfielen wie durch die Fenster einer Kathedrale. Es fühlte sich an wie ein Traum, als ich so still mitten durch Manhattan wanderte, ohne einen einzigen Menschen zu sehen.

      Ungefähr auf halbem Weg fand ich ein riesiges, über dreißig Meter langes Mural, Produkt eines Künstlers, der sich Freedom nannte und dem Tunnel seinen Namen verlieh. Ich lehnte an der gegenüberliegenden Wand und bewunderte das Gemälde, das im Licht zu zittern schien. Eine leichte Brise wehte durch den Tunnel, und aus der Ferne hörte ich das Brausen des Verkehrs auf dem West Side Highway, das sich mit dem Vogelgesang im Park vermischte.

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      Und dann sah ich auf einmal, wie aus der Tiefe des Tunnels die riesigen Scheinwerfer eines Zugs auf mich zukamen. Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand, spürte einen tiefen, rumpelnden Bass unter den Füßen, dann eine Lichtexplosion, die Druckwelle eines starken Windes und ein enormes Tosen, das meine Rippen vibrieren ließ. Ich schwebte nicht in Lebensgefahr – zwischen mir und den Gleisen war knapp fünf Meter Platz. Aber dicht an die Wand gedrängt schlotterte ich am ganzen Körper, und in meinem Kopf brannte es lichterloh.

      Als ich an jenem ersten Nachmittag aus dem Tunnel auftauchte und am Hudson River über einen Zaun kletterte, hatte sich mein Verhältnis zu New York radikal verändert. Überirdisch bewegte ich mich auf immer derselben Route zwischen Arbeit und Zuhause, entlang eines Weges mit sehr eingeschränkten Sinneserfahrungen; unten im Tunnel hatte ich diese begrenzten Wege verlassen und spürte tief in mir eine neue Verbindung mit der Stadt. Es war ein Gefühl, als wäre ich wachgerüttelt worden und hätte es zum ersten Mal gewagt, New York auf Augenhöhe zu begegnen.

      In den Untergrund zu gehen, in den Leib der Stadt hineinzukriechen, das war für mich der Beweis, dass auch ich nach New York gehörte und mit der Stadt vertraut war. Es bereitete mir große Genugtuung, meinen Freundinnen und Freunden, die echte, gebürtige New Yorker waren, von alten Gewölben unter ihrem Viertel zu erzählen, von denen sie nichts ahnten. Ich liebte es, in unterirdischen Gängen Strukturen der Stadt zu sehen, die für Menschen an der Oberfläche unsichtbar waren – uralte Graffiti und Tags, Risse in den Fundamenten von Wolkenkratzern, exotische Schimmelwucherungen an Wänden, jahrzehntealte Zeitungsseiten, die zusammengeknüllt in versteckten Nischen lagen. Die Stadt und ich hatten jetzt gemeinsame Geheimnisse: Ich durchsuchte ihre geheimen Schubladen und las ihre privaten Briefe.

      Steve und ich waren eines Nachts in der Nähe des Brooklyn Navy Yard unterwegs; er stellte orangefarbene Kegel rund um einen Gully auf und zog mit einem Eisenhaken den Deckel hoch. Ein Dampfwölkchen kam heraus. Wir stiegen die Leiter hinunter, Hand für Hand an den schleimigen Sprossen, und landeten spritzend in der Kanalisation. Das Abwasserrohr war um die vier Meter hoch, in der Mitte gurgelte grünliches Wasser. In der warmen Luft beschlug meine Brille sofort. Beim Anblick der langen, zähflüssigen Bakterienstränge, die von der Decke hingen – in der Szene unter dem zärtlichen Spitznamen »Snotsicles« bekannt, weil sie wie gefrorene Rotzfäden aussehen –, zögerte ich ein wenig, aber die Kanalisation war weit weniger eklig, als ich erwartet hatte. Es roch nicht so sehr nach Fäkalien, sondern eher erdig, wie in einer alten Scheune voller Düngersäcke. Wir ließen das Licht unserer Stirnlampen über das Lehmufer wandern; wie Sandbänke in einem Fluss sah der Schlamm aus und war besiedelt von Kolonien winziger Albinopilze. Während der Laichsaison schwimmen in diesem Wasser Aale.

      Vermischt mit dem grünlichen Abwasser floss hier der Wallabout Creek, erklärte mir Steve, ein natürlicher Bach, der früher in die Wallabout Bay entwässert hatte, wo sich heute der Navy Yard befand. Auf einer Karte von 1766 war der Fluss noch eingezeichnet, aber als die Stadt immer weiter wuchs, wurde er unter die Erde verlegt und verschwand aus den Augen der Welt.

      An der Oberfläche war New York ein wildes, ungestümes Tier: grummelnd und knurrend stieß es Dampf aus und spuckte Menschenmassen aus seinen Öffnungen. Aber hier unten, wo einer der ursprünglichen Flüsse friedlich um meine Füße plätscherte, fühlte sich die Stadt ruhig und gelassen an, sogar verletzlich. Die Begegnung war so intim, dass sie mir fast unangenehm war: ein Gefühl, als ob man jemanden beim Schlafen beobachten würde.

      Als wir die Leiter wieder hochkletterten und durch den offenen Gully zurück an die schneidend kalte Luft kamen, war


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