Im Untergrund. Will Hunt

Im Untergrund - Will Hunt


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Kanalisation betraten, konnte selbst ein kleiner Schauer an der Oberfläche unterirdisch eine Flutwelle bedeuten. Der Juni in Paris war nass gewesen, und wir hatten seit unserer Ankunft ständig den Wetterbericht verfolgt. Steve hatte einen anderen Explorer, Ian, oben in der Stadt dafür abgestellt, uns Wetter-Updates zu schicken. In der Gruppe legten wir ein Versprechen ab: Beim ersten Zeichen von Regen ging es nach oben, und die Expedition wäre vorbei.

      Unser Grüppchen stand eng zusammen ums Einstiegsloch; Moe hatte die Rolle des Protokollanten übernommen, sah auf die Uhr und machte einen Eintrag auf dem Notizblock: »21.46 Uhr, es geht nach unten.« Steve kletterte als Erster Kopf voran hinein, schlängelte sich mit der Hüfte durchs Loch und machte Scherenschläge mit den Beinen; wir anderen folgten, einer nach dem anderen. Ich war der Letzte: Ich blickte noch einmal nach rechts und links durch den menschenleeren Eisenbahntunnel und zwängte mich dann ins Dunkel.

      Der Tunnel, in dem wir landeten, war eng und niedrig, die Wände bestanden aus rauen, nassen Steinen. Ich schob den Rucksack nach vorn, krabbelte auf allen vieren durch kaltes Wasser, stieß trotzdem mit dem Rücken an die Steindecke und war sofort bis auf die Haut durchnässt. Das Gestein roch erdig, fast angenehm ländlich, nach regendurchweichter Tafelkreide. Die Strahlen unserer Stirnlampen flackerten wie Stroboskopblitze, nur die Musik fehlte. Der Abschied von der Oberwelt war so abrupt, wir hätten auch am Grund des Ozeans sein können. Das Hupen der Autos auf der Straße, das Rattern der Tram auf der Avenue du Général Leclerc, das Murmeln der unter den Brasseriemarkisen rauchenden Pariser – alles war mit einem Schlag weggewischt.

      Steve führte uns Richtung Norden. In einem etwas breiteren Stollen konnten wir in die Hocke gehen und mühsam im Entengang weiterwatscheln, dann kam eine gewölbte Passage, in der wir Erdboden unter den Füßen hatten, bis wir alle aufrecht gehen konnten und etwas schneller vorankamen. Der erste Abschnitt unserer Reise hatte begonnen.

      In Paris sagt man, der Untergrund der Stadt mit seinen unendlich vielen Aushöhlungen sei löchrig wie ein Schweizer Käse, und nirgendwo so sehr wie in den Katakomben. Die Katakomben sind ein enormes Labyrinth aus Stein, dreihundert Kilometer Tunnel, zum größten Teil am Rive Gauche der Seine. Manche der Stollen stehen unter Wasser, sind halb eingestürzt und voller Krater; andere sind mit ordentlich gemauerten Backsteinen, eleganten Torbögen oder sogar verzierten Wendeltreppen ausgestaltet. Die Catas, wie sie von den Eingeweihten genannt werden, sind ganz genau genommen keine Katakomben – ein aus dem Lateinischen stammendes Wort für unterirdische Beinhäuser, catacumbae waren Grabgewölbe –, die Pariser Katakomben sind Steinbrüche. Sämtliche imposanten Gebäude entlang der Seine – Notre-Dame, der Louvre, der Palais Royal – sind aus Kalkstein gebaut, der unter der Stadt gewonnen wurde. Die ältesten Gänge wurden bereits in den felsigen Untergrund gehauen, um die römische Stadt Lutetia zu errichten; Überreste davon sind heute noch im Quartier Latin zu finden. Als die Stadt im Lauf der Jahrhunderte immer weiter wuchs, wurde immer mehr Kalkstein an die Oberfläche geschafft, das unterirdische Stollensystem wucherte und breitete sich unter der Stadt aus wie die Wurzeln eines riesigen Baums.

      Bevor Nadar mit seiner Kamera kam, herrschte Stille in den unterirdischen Steinbrüchen. Die einzigen regelmäßigen Besucher waren eine Handvoll städtische Angestellte, die mit dem Rechen die Knochen in den Katakomben verteilten; die Inspection générale des carrières, die im Licht von Laternen die steinernen Passagen patrouillierte und die Tunnel abstützte, damit sie nicht unter dem Gewicht der Stadt zusammenbrachen – und vereinzelt mal ein Pilzzüchter, der die trockene, dunkle Umgebung zum Anbau von Pilzen nutzte. Für den Rest der Stadt war der Steinbruch unter ihren Füßen ein großer weißer Fleck: ein sehr weit entfernter Ort mit einer eher imaginären als echten Landschaft.

      Als wir den Untergrund so viele Jahre nach Nadar betraten, war es recht belebt dort. Bunte Graffiti zierten die Wände, und auf dem Erdboden waren überall Fußabdrücke. Wenn wir an Pfützen kamen, war das Wasser darin schlammig und aufgewühlt, ein deutliches Zeichen, dass erst vor Kurzem jemand hindurchgegangen war. Überall gab es Spuren der Cataphiles – Pariser und Pariserinnen, die regelmäßig in den Katakomben unterwegs sind. Im Königreich der Urban Explorer bildeten sie ihr eigenes Völkchen, das meist aus Teenies und Studierenden unter dreißig bestand; manche Kataphile sind aber auch über fünfzig oder sogar sechzig, erforschen seit Jahrzehnten das Labyrinth und haben schon wieder katakombenliebende Kinder und Enkel in die Welt gesetzt. Die Stadt beschäftigt eine eigene Polizeitruppe für die Katakomben – die Cataflics –, sie patrouilliert in den Tunneln und verteilt Fünfundsechzig-Euro-Strafzettel an alle Unbefugten. Aber sie kann die Cataphiles trotzdem nicht fernhalten, für die das Labyrinth eine Art riesiger Underground Club und Spielwiese ist.

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      Wir waren seit zwei Stunden unter der Erde unterwegs, und Steve führte uns durch einen Gang, der so eng und niedrig war, dass wir auf Ellbogen und Bauch vorwärtsrobbten. Als wir auf der anderen Seite wieder herausrutschten, sahen wir drei Stirnlampen in der Dunkelheit glühen. Es waren drei junge Pariser Cataphiles, angeführt von einem großen, langgliedrigen Mann Mitte zwanzig, Benoit hieß er.

      »Willkommen am Plage«, sagte er mit weit ausholender Geste.

      Wir waren an einem der wichtigsten Treffpunkte der Cataphiles gelandet, einem großen, höhlenartigen Raum mit Sandboden und hohen Decken, die von dicken Sandsteinpfeilern gestützt wurden. Jede Oberfläche, jeder Quadratzentimeter an den Wänden, Pfeilern und der Felsendecke war bemalt. Im Dunkeln sahen die Gemälde gedämpft und schemenhaft aus, aber im Licht einer Taschenlampe fingen sie an zu strahlen. Mittelpunkt war eine Kopie von Hokusais Die große Welle vor Kanagawa mit der sich kräuselnden Gischt in Weiß und Blau. Im ganzen Raum verteilt standen aus Stein gemeißelte Tische, Bänke und Stühle. Die Raummitte wurde von der riesigen Skulptur eines Mannes eingenommen, der mit seinen erhobenen Armen die Decke stützte, wie ein unterirdischer Atlas, die Stadt auf seinen Schultern tragend.

      »Das hier ist so was wie …« Benoit zögerte, offensichtlich suchte er nach einer passenden Analogie, »der Times Square der Katakomben.«

      Am Wochenende, erklärte er, füllten sich La Plage und andere große Hallen mit Partyvolk. Manchmal zapften sie eine Straßenlampe an der Oberfläche an, sodass eine Band oder ein DJ Musik machen konnte. Oder ein Cataphile band sich einen Gettoblaster auf die Brust, arbeitete sich damit durch die Tunnel und bewegte sich mit der Musik von einem Raum zum nächsten, und die Party folgte ihm, tanzte wie eine unterirdische Polonaise durchs Dunkel, während Whiskeyflaschen von einem zum nächsten wanderten. Aber dort unten fanden auch gesetztere Zusammenkünfte statt: Gut möglich, dass man in einem dunklen Saal auf eine kerzenerleuchtete Festtagsfeier traf, bei der Cataphiles zusammen Champagner tranken und galette des rois aßen.

      In Paris gehen die Menschen seit langer Zeit in den Untergrund, um sich künstlerisch zu betätigen, Bilder zu malen und Skulpturen und Installationen in entlegenen Grotten zu schaffen. Nicht weit von La Plage befand sich Le Salon du Chateau, wo ein Cataphile die Nachbildung einer normannischen Burg aus dem Stein gehauen und mit Wasserspeier-Skulpturen verziert hatte. Im Salon des Miroirs waren die Wände mit Spiegelscherben bedeckt, es sah aus wie in einer großen Discokugel. Und dann war da noch La Librairie, ein Alkoven mit handgehauenen Regalen, auf denen man Bücher für andere abstellen konnte (leider verschimmelten die Bücher in der feuchten Luft relativ schnell).

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      Wenn man die Katakomben durchstreift, hat man das Gefühl, in einem irren Krimi voller Falltüren, falscher Wände und geheimer Rutschen gelandet zu sein, in dem jede Öffnung zu neuen, versteckten Räumen mit neuen Überraschungen führt. Am Ende einer Passage stößt man vielleicht auf ein riesiges Hieronymus-Bosch-Wandgemälde, das im Lauf der Jahrzehnte immer weiter vervollständigt worden ist, an einer anderen Stelle auf die lebensgroße Skulptur eines Mannes, der halb aus der Steinwand herauskommt, als trete er gerade aus dem Jenseits hervor; dann geht man einen anderen Gang entlang und kommt an einen Ort, der jegliches Konzept von Realität infrage stellt. 2004 brach eine Streife in den unterirdischen Steinbrüchen durch eine falsche Wand und landete in einem


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