Im Untergrund. Will Hunt

Im Untergrund - Will Hunt


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sodass im Laufe eines ganzen Arbeitstags nur ein paar wenige Fotos entstanden; ein Assistent murrte: »Wir werden noch alt hier unten.« Aber Nadar war nicht zu bremsen. Als Fotomodell staffierte er eine Holzpuppe mit einem Bart, Hut, Stiefeln, Arbeitsoverall und Mistgabel zum Verteilen der Knochen aus.

      Nadar produzierte dreiundsiebzig Fotos in den Katakomben, eine stille, surreale Bilderserie. Auf einem Bild war ein frisch aufgeschütteter, ungeordneter Haufen Knochen zu sehen, auf anderen liebevoll aufgeschichtete Knochenfriese, auf wieder anderen die Holzpuppen, die knochengefüllte Loren durch die Gänge schoben. Die Bilder waren, sobald sie in der Société française de photographie gezeigt wurden, umgehend eine Sensation. Nadar wurde zu einer mythischen Figur stilisiert, die den Kosmos der Stadt durchwanderte. Ein Artikel im Journal des débats bezeichnete ihn als »Beelzebub«, den Herrn der Unterwelt; ein anderer bezichtigte ihn, ein Totenbeschwörer zu sein, der »die sterblichen Überreste vergangener Generationen elektrisiert« habe. Eine ganze, bis dahin geheime Dimension der Stadt war mit einem Mal offenbar geworden: »Er und seine Gehilfen«, schrieb ein Journalist, »wühlen in den Eingeweiden der unschuldigen Erde und machen die Menschen mit Szenen vertraut, die nur wenige bis dahin mitangesehen haben.« Nadar wurde zur Sensation von Salons und Cafés, die unterirdischen Bilder waren in aller Munde.

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      Aber es wurde nicht nur geredet. Die Fotos weckten ein Verlangen in den Parisern: Kaum hatten sie einen ersten Eindruck von der Unterseite der Stadt bekommen, wollten sie die Stollen auch berühren, ihren Geruch wahrnehmen, wollten die eigenen Schritte durchs Dunkel hallen hören. Ungefähr zur selben Zeit, in der die Fotografien zum ersten Mal zu sehen waren, wurden auch die Katakomben geöffnet und entwickelten sich sehr schnell zu einer der größten Attraktionen der Stadt. Anfangs ein paar Mal im Monat, dann regelmäßiger bewegten sich Herren in Zylindern und Damen in langen Kleidern in dicht gedrängten Grüppchen durch die Beinhäuser, spähten in die leeren Augenhöhlen braun gewordener Schädel und betrachteten Wände aufgeschichteter Schienbeine im Kerzenlicht. Sie schauderten angesichts der hallenden Akustik und des beklemmenden Gefühls, tief unter der feuchten Erde zu sein; am Ende des Rundgangs ließen viele Besucher heimlich einen Schädel als Souvenir mitgehen. Die Katakomben waren bald so beliebt, dass Gustave Flaubert sich über die Menschenmassen in ihnen empörte, als er sie 1862 mit den Schriftstellern Jules und Edmond de Goncourt besuchte. »Man muss sich mit den vielen Pariser Witzbolden herumschlagen, die sich im Untergrund auf veritable Vergnügungsfahrten begeben«, schrieben die für ihren scharfen Witz berühmten Goncourt-Brüder, »und sich einen Spaß daraus machen, dem Nichts Verwünschungen ins Maul zu schleudern.«

      Gleichzeitig gab es auch den ersten großen Andrang illegaler Besucher – Proto-Kataphile, die sich in den Stollen abseits des offiziellen Rundgangs umsahen. Liebespaare verabredeten sich zum unterirdischen Rendezvous, Jugendliche begaben sich auf abenteuerliche Entdeckungsreisen. Ähnlich wie viele, viele Jahre später wurden auch damals schon geheime Konzerte in den Katakomben organisiert. Einhundert geladene Gäste versammelten sich auf der Rue d’Enfer (Straße der Hölle). Ihre Kutschen hatten sie in einiger Entfernung abgestellt, um keinen Verdacht zu erregen, dann schlüpften sie in den Untergrund. Zwanzig Meter unterhalb der Stadt saß das Publikum, umgeben von auf menschlichen Schädeln brennenden Kerzen, vor einem Orchester mit fünfundvierzig Musikern. Auf dem Programm standen Chopins Trauermarsch und Saint-Saëns mit seinem Danse Macabre.

      Noch eine Stunde weiter in nördlicher Richtung, dann schlugen wir unser Lager in einer viereckigen Kammer auf, die erst im neunzehnten Jahrhundert aus dem Stein gehauen worden war. Wir hängten unsere Hängematten an Eisenringe in der Wand, und Liz und ich kochten Spaghetti mit Thunfisch. Glücklich und erschöpft verzehrten wir schweigend unser Essen. Es war wie Zelten auf dem Mond: Hier unten gab es keine Geräusche, nichts Lebendiges, nur kilometerweit Dunkelheit.

      Als wir uns schlafen legten, fragte Chris, welche Uhrzeit es sei. Moe meinte, wir befänden uns an einem Ort, an dem es von Anbeginn aller Zeiten bei vierzehn Grad Celsius vollkommen dunkel gewesen sei, der sich also jenseits aller natürlicher Rhythmen befand. »Es ist nie Uhr«, sagte er.

      Ich wachte auf und sah eine Frau im Durchgang zu unserer Schlafkammer stehen. In einer Hand hielt sie eine antike, schmiedeeiserne Laterne mit einer zischenden Flamme darin, die ein honiggelbes Licht verströmte. Ich beobachtete, wie sie sich auf Zehenspitzen in die Mitte des Raums bewegte und etwas auf den Boden legte, das wie eine kleine Postkarte aussah.

      »Bonjour«, sagte ich. Sie fuhr zusammen.

      Misty war über vierzig und besuchte die unterirdischen Steinbrüche seit gut fünfundzwanzig Jahren. In dieser Nacht wanderte sie allein durch die Gänge – ohne Karte, wie mir auffiel.

      »Manchmal ist es schön, zum Spazierengehen nach hier unten zu kommen«, sagte sie mit französisch singendem Tonfall. Wie sie es schaffte, dass ihre Stiefel fleckenlos und ihre graue Bluse wie frisch aus der Reinigung aussahen, war mir unklar. Misty bewegte sich in den Steinbrüchen von einem Hohlraum zum nächsten und hinterließ überall kleine Zeichnungen, gemalte Grüße an andere Cataphiles. Für uns hatte sie ein Bild von zwei Händen, die ein Dreieck bilden, hingelegt.

      Es war ein Uhr morgens, als wir den Ausgang aus den Katakomben fanden: eine chatière, die so eng war, dass ich mit den Schultern nur ganz knapp hindurchpasste. Wir befanden uns in einer selten besuchten Ecke der Bergwerksstollen, in der die Decken mit jahrhundertealten, von der Inspection générale des carrières eingebauten Holzpfosten abgestützt wurden.

      Wir waren jetzt seit siebenundzwanzig Stunden unter der Erde. Ich hatte getrockneten Schlamm in den Ohren und rund um die Nasenlöcher.

      »Ich komme mir schon wie ein Höhlenmensch vor«, sagte Liz und machte ein paar Dehnübungen im Tunnel.

      »Ich finde ständig irgendwelches Zeug in meinen Haaren«, sagte Jazz und untersuchte eine Dreadlock. »Ich glaube, das war gerade Knochenmark.«

      Moe zog die Socken aus, holte ein kleines Jodfläschchen hervor und pinselte seine Zehennägel mit der orangefarbenen Flüssigkeit ein. Steve sah verwundert zu.

      »Du glaubst doch nicht etwa, dass ich meinen Niednagel nicht desinfiziere, bevor ich im Abwasser herumlaufe?«

      Um in die Abwasserkanäle zu gelangen, mussten wir erst einen Weg durch Technikgänge finden, die uns unter die Seine führen würden. Wenn die Katakomben das Stammhirn der Stadt waren, dann war der Gang aus Beton, in dem wir jetzt herauskamen, ein Blutgefäß, eine bescheidene Verbindungsader zwischen wichtigeren Organen. Als wir weitergingen, merkten wir, wie nah wir der Erdoberfläche auf einmal waren: Von der Straße drangen gedämpft Gesprächsfetzen herunter, das Klacken hoher Absätze, das Bellen eines Hundes. Durch einen Entlüftungsschacht in der Wand sah ich einen orangefarbenen Schein – Licht aus einer Tiefgarage. Ich ging in die Hocke und beobachtete eine dunkelhaarige Frau, die in ihr Auto stieg, rückwärts aus der Parklücke ausscherte und wegfuhr, und ich kam mir vor, als sei ich ein Gespenst, das hinausspäht in die Stadt der Lebenden.

      Wir schafften es nicht, einen Zugang zum Versorgungstunnel unter der Seine zu finden, und mussten deshalb nach oben, wenn auch nur für einen Augenblick. Am Fuß eines Schachts mit einer an die Oberfläche führenden Leiter diskutierten wir die Choreografie unseres Ausstiegs in besorgtem Flüsterton.

      »Ich glaube, ich habe mehr Angst davor, erwischt zu werden, als hier unten ums Leben zu kommen«, flüsterte Moe.

      »Alles gut«, sagte Steve. »Wenn sie uns ins Gefängnis schmeißen, graben wir einfach einen Tunnel.«

      Chris’ Augen war leichte Besorgnis anzusehen.

      Wir kamen in der Nähe von Saint-Sulpice heraus, vor einem Laden mit luxuriöser Babykleidung. Weit und breit war keine Polizei zu sehen, und wir huschten durch leere Gassen in Richtung Seine. Am Ende einer menschenleeren Straße ging Steve in die Hocke und öffnete eine Klappe, und wir verschwanden alle schnell wieder unter der Erde. Als ich mich noch einmal umschaute, bemerkte ich den Blick eines Hilfskellners, der mich verständnislos anstarrte, während er die letzten Salz- und Pfefferstreuer abräumte.

      Der Tunnel


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