In tiefem Schlaf. Gretelise Holm

In tiefem Schlaf - Gretelise Holm


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      Gretelise Holm

      In tiefem Schlaf

      Kriminalroman

       Aus dem Dänischen von Hanne Hammer

      Lindhardt & Ringhof

      Auf der Flucht

      Zwei Millionen Flüchtlinge aus Ostpreußen, Pommern und Danzig wurden in den letzten hundert Tagen des Zweiten Weltkriegs über die Ostsee nach Dänemark und Norddeutschland evakuiert. Kinder, Frauen, alte Menschen und verletzte Soldaten auf der verzweifelten Flucht vor den voranstürmenden sowjetischen Truppen.

      Es war die größte Evakuierung der Weltgeschichte von Flüchtlingen über das Meer.

      Hinter sich ließen die Flüchtlinge ihre brennenden Städte, gefallene Soldaten, vergewaltigte Frauen und tote Angehörige. Vor ihnen lag das Meer als einzige Fluchtmöglichkeit und über ihnen kreisten die sowjetischen Jagdflugzeuge, die sie auf den Fluchtwegen über Land beschossen und bombardierten.

      An Bord eines Flüchtlingsschiffes zu kommen bedeutete nicht zwangsläufig die Rettung, da sowjetische U-Boote ebenso wie englische und amerikanische Bomber die Schiffe unter Beschuss nahmen, was zu den größten – und am erfolgreichsten verschwiegenen – Schiffskatastrophen der Weltgeschichte führte: Am 31. Januar 1945 wurde das Flüchtlingsschiff Wilhelm Gustloff mit ungefähr 4000 Flüchtlingen an Bord versenkt. Am 10. Februar kamen 3500 Flüchtlinge ums Leben, als die General Steuben unter Beschuss versank. Die Goya, die im April mit 6000 Flüchtlingen an Bord auf dem Weg nach Kopenhagen war, wurde von Torpedos getroffen und sank innerhalb weniger Minuten. Nur 183 Flüchtlinge konnten gerettet werden. In der Lübecker Bucht bei Neustadt versenkten englische Bomber am 3. Mai die Cap Arcona und die Thielbek, zwei Schiffe mit 7500 Menschen an Bord. Die Bombardierung dieser beiden Schiffe wurde später als »tragischer Fehler« angesehen. An Bord befanden sich nämlich keine deutschen Frauen und Kinder auf der Flucht, sondern Gefangene aus deutschen Konzentrationslagern.

      Im Vergleich dazu kostete der Untergang der Titanic »nur« 1517 Menschen das Leben.

      Über diese grausamen, wohlüberlegten Angriffe auf die flüchtende Zivilbevölkerung wurde nur sehr wenig gesprochen, da man nicht gerne zugab, dass die Deutschen auch Opfer gewesen waren und die Alliierten auch Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung verübt hatten.

      Bei Kriegsende befanden sich 240 000 deutsche Flüchtlinge in Dänemark. Die Besatzungsmächte in Deutschland ließen sie nicht zurück in das zerbombte Land, so dass sie in Dänemark bleiben mussten – was ihnen genauso wenig zusagte wie den Dänen. Die letzten Flüchtlinge verließen das Land erst vier Jahre später.

      Nach dem 5. Mai wurden die Flüchtlinge in bewachten Lagern hinter Stacheldraht interniert. Die Sterblichkeitsrate war hoch. Im Laufe des Jahres 1945 starben über 90 Prozent der Kinder unter einem Jahr und mindestens ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren. Einzelne Dänen protestierten, doch die vorherrschende Stimmung in der öffentlichen Debatte war bar jeden Mitleids: Die Kinder hatten es nicht besser verdient. Sie waren Deutsche.

      Strenge Gesetze verboten den Kontakt zu Flüchtlingen und einzelne barmherzige Dänen, die versuchten, Lebensmittel in die Lager zu werfen, wurden hart bestraft.

      Ostpreußen, eine der ältesten deutschen Provinzen, wurde bei Kriegsende zwischen Russland und Polen aufgeteilt. Die Ostpreußen, die nicht geflohen oder von den Siegern getötet worden waren, wurden zwangsumgesiedelt.

      Schon früh habe ich Berichte über den grausamen Krieg und die Flucht aus Ostpreußen gehört – so wie Oma meiner Mutter davon erzählt hatte.

      Oma war eine ältere Frau, die aus der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg geflüchtet war. Meine damals neunundzwanzigjährige Mutter ließ sie in den letzten Monaten des Krieges bei uns wohnen. Als nach der Befreiung der Kontakt zu den deutschen Flüchtlingen verboten wurde, kam Oma – zur großen Sorge meiner Mutter – in das Lager in Oksbøl, wo sie eine harte Zeit durchmachte, bis sie nach Ostdeutschland repatriiert wurde. Bis zu ihrem Tod unterhielt sie engen Kontakt zu meiner Mutter.

      Die absolut fiktiven Abschnitte über die Flüchtlinge aus Ostpreußen sind inspiriert von Omas Erzählungen und den Doktorarbeiten von Henrik Havrehed »Deutsche Flüchtlinge in Dänemark 1945–49« und Arne Gammelgård »Menschen im Mahlstrom« sowie von Kirsten Lylloffs historischem Artikel »Gilt der hippokratische Eid für alle?«.

      Gretelise Holm

      Ostpreussen, Januar 1945

      Den Fluchtweg säumten tote Menschen und tote Pferde und Gertrud dachte pragmatisch, dass die Kälte mit minus zehn Grad gewisse Vorteile hatte. Die Leichen gingen nicht so schnell in Verwesung über. Kranke und Verletzte lagen am Wegesrand im Sterben.

      Der Wind war schneidend kalt und die, die sich noch auf den Beinen halten konnten, zogen Kleidung und Decken eng um sich und taumelten vornüber gebeugt durch den Schnee wie eine lebende Illustration der Behauptung, dass Gehen eine Unterbrechung des Falls ist. Der Treck bestand überwiegend aus Frauen, Kindern und invaliden und alten Männern, die von Trauer, Wunden, Schmerzen, Hunger und Kälte gequält wurden und völlig erschöpft waren.

      Sie bewegten sich in kleinen Gruppen vorwärts, einige mit Kinderwagen, Bollerwagen und Karren, andere mit Bündeln, Taschen oder Koffern. In den ersten Tagen waren noch viele Pferdewagen im Flüchtlingstreck, doch die Wagen waren bevorzugte Ziele der russischen Jagdflugzeuge, und wenn russische Panzer den Treck angriffen, wurden die Pferdewagen in den Graben gestoßen und man schoss auf Pferde und flüchtende Passagiere. Jetzt bewegten sich die meisten in diesem Teil des Trecks zu Fuß vorwärts.

      Hinter ihnen leuchtete der Himmel rot im Schein der brennenden Städte und über ihnen kreisten russische Jagdflugzeuge, die immer wieder ihre todbringende Last auf den scheinbar endlosen Flüchtlingsstrom abwarfen.

      Ein Gerücht ging um, dass es irgendwo in zehn Kilometern Entfernung Kohlrabisuppe geben sollte, was die kläglichen Gestalten für eine Weile zur Eile antrieb. Eine jüngere Familie aus Gertruds und Doras Stadt ließ einen sterbenden Onkel zurück, um die Suppe nicht zu verpassen.

      Gertrud, die 58 Jahre alt war, hatte Krieg und Flucht schon einmal erlebt. Vielleicht hielt sie deshalb so gut durch. Sie empfand keinen Schmerz und keine Todesangst. Nur eine abgrundtiefe Trauer. Sie band das Kopftuch unter dem Kinn fest und bat Gott still um einen Schlaganfall oder einen anderen plötzlichen Tod, während ihre Beine sich mechanisch bewegten und sie und den Bollerwagen mit ihren Habseligkeiten weiterbrachten. Ihre schwangere Schwiegertochter Dora hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen.

      Auf der letzten Flucht vor dreißig Jahren war Gertrud selbst schwanger gewesen. Ein Kind im Bauch und eins an der Hand. Sie hatte die Kleinen durch den Ersten Weltkrieg gebracht, damit für den Zweiten Weltkrieg auch noch Kanonenfutter übrig war. Ihr Sohn Karl war 1942 bei Leningrad gefallen und von ihrem anderen Sohn, Winfried, hatte sie seit einem halben Jahr kein Lebenszeichen erhalten. Aus Geheimhaltungsgründen durften die Soldaten nicht schreiben, wo sie Dienst taten, aber sie hatte Grund zu der Annahme, dass er an der Ostfront war und keiner kannte Namen oder Zahlen der dort gefallenen Soldaten.

      Dora war mit Winfried verheiratet und erwartete ihr drittes Kind. Im Gehen weinte sie um ihre zwei Kinder Rosemarie und August. Gestern hatten sie bei einem freundlichen Bauernpaar einen Platz auf einem Pferdewagen bekommen. Der Wagen war von der Bombe eines russischen Jagdfliegers getroffen worden und später hatten sie ein Bein von Rosemarie und den Kopf von August gefunden. Sie waren drei und fünf Jahre alt gewesen. Dora schrie und weinte abwechselnd über den Tod der Kinder, die Bosheit der Welt, die Toten am Wegesrand, ihre Schmerzen, ihr ungeborenes Kind und die verzweifelten Zukunftsaussichten.

      »Alle haben Verluste erlitten. Hör auf zu weinen. Die Toten leiden nicht. Du musst deine Kräfte zum Gehen einsetzen, wenn das Kind in deinem Bauch eine Chance haben soll«, sagte Gertrud zu ihrer Schwiegertochter.

      »Warum, warum?«, weinte die Jüngere.

      »Warum, warum bist du so dumm?«, äffte ein frecher oder verstörter Typ, der die beiden


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