Flow – Fotografieren als Glückserlebnis. Pia Parolin

Flow – Fotografieren als Glückserlebnis - Pia Parolin


Скачать книгу
Zeit geknipst. Dieses Foto repräsentiert auch meine Geschichte als Fotografin. Bis dahin war ich nämlich »nur« leidenschaftliche Biologin. Ich spielte gerne mit meiner Kamera, als Hobby. Zwei Freundinnen drangen mich dazu, meine Bilder schön zu drucken und an einem populären Fotofestival in der Region teilzunehmen. Sie fotografieren selbst wunderbar und glaubten an mich – viel mehr als ich selbst an mich glaubte. So machte ich 2017 meine allererste Fotoserie: »Promenade Moments«. Es war spannend, das erste Mal meine eigenen Bilder für eine Ausstellung zusammenzustellen und auf teurem, wunderbar glänzendem Metall gedruckt zu sehen. Wenn, dann richtig, dachte ich mir. Und dieses Foto gewann auf Anhieb den ersten Preis! Im Folgejahr war es das Symbolbild des Festivals. Wer hätte 2017 gedacht, dass ich jetzt, nur drei Jahre später, sogar ein Buch über Fotografie schreiben würde? Es floss einfach, ich wusste nicht wohin und warum, aber ich schwamm mit dem Fluss, genoss das Neue, Kreative in meinem Leben und alles, was sich damit einstellte. Heute bin ich aus meiner Krise heraus, habe ein Standing als Fotografin. Das alles hat funktioniert, weil ich spielerisch heranging, offen für alles war, was da kam, weil ich mir Mühe gab, positiv zu sein, und weil ich lernte. Unaufhörlich saugte ich alles zu Fotografie und Kreativität auf, wollte mehr wissen, verstehen, praktizieren können. Vor allem aber: Ich blieb dran. Denn auf Anhieb zu gewinnen, klingt einfach. Sich danach weiterzuentwickeln ohne immerzu riesige Erfolge, ist hingegen die Realität, der man sich dann stellen muss. Ich hatte die Ausdauer, weil ich immer wieder im Flow war. Auch vorher hatte ich schon fotografiert. Aber nach Natur und Landschaften, Makro und hübschen provenzalischen Fenstern und Türklinken fiel mir nicht mehr viel Interessantes ein. Fast hätte ich die Fotografie aufgegeben. Dann fand ich mein Thema in der Straßenfotografie. Plötzlich wartete ich nicht mehr, dass die Menschen aus meinem Bildausschnitt verschwanden, sondern dass sie vielmehr hineintraten. Das machte Spaß, war neu und stellte neue Herausforderungen dar, also fing ich Feuer. Ich merkte, wie ich in der Fotografie immer besser wurde und meinen Ort in der Sonne, am Meer gefunden hatte. Und dieses Thema, »Promenade Moments«, floss. Den Flow konnte ich weiter nutzen für alles, was nach diesem Siegerfoto folgte: Reden und Vorträge, zwei Bücher, Diskussionsrunden, weitere Wettbewerbe und Siege, Solo-Ausstellungen, die seit zwei Jahren durch Deutschland touren. Ich wurde zur Botschafterin von Nizza ausgezeichnet, ins renommierte Collectif Photon aufgenommen … ich komme kaum hinterher. Aber jeder Schritt hat mich glücklich gemacht, und der Prozess, bei dem ich Flow-getrieben mitunter schwere Aufgaben löste und Hindernisse nahm, war ebenso bereichernd wie die Ergebnisse am Ende.

      Falls du dich übrigens über das quadratische Format dieser Serie wunderst: Dieses verdanke ich Instagram. Das Quadrat war nämlich in den ersten Zeiten der Existenz dieses sozialen Netzwerks das einzig zugelassene Format. So presste ich meine langen Promenaden-Bilder in diese Form – und sie gefiel mir.

      1.3WORKFLOW, KREATIVER FLOW, MENTALER FLOW

      Der Begriff des Flows ist gerade ziemlich angesagt. Es gibt Bücher, Videos, Podcasts und seitenweise populärwissenschaftliche Anleitungen im Internet darüber. Der »kreative Flow« ist fast schon eine Floskel für das Fließen, das sich einstellt, wenn du tief in etwas eingetaucht bist. Was aber als allgemeinverständliches Wort hingenommen wird, ist keineswegs trivial. Der Flow ist keine esoterische Spielerei, sondern ein psychologisch und neurologisch erwiesener Zustand des Gehirns.

      Ich wette, die wenigsten wissen, was es wirklich damit auf sich hat. So wie kaum jemand, der nicht ungarische Eltern hat, spontan den Namen des wissenschaftlichen Vaters des Flow-Konzepts aussprechen kann: Mihály Csíkszentmihályi (aus englischsprachiger Sicht: »me-HIGH chick-sent-me-HIGH-ee«). Dieser ungarischstämmige Psychologieprofessor von der University of Chicago hat bereits im Jahr 1975 den mentalen Zustand des Flows beschrieben. Unzählige Bücher und Vorträge folgten. Sie handeln nicht nur vom Flow, sondern vor allem von den Glücksgefühlen, die damit einhergehen.

      Was aus dem Englischen als »das Fließende« zu übersetzen wäre, bedeutet nichts weiter als dass du dich in einem schwerelosen Gemütszustand befindest, in dem plötzlich alles wie am Schnürchen läuft. Ob beim Musizieren, bei einem Leistungssport, beim Lösen einer komplizierten Aufgabe im Arbeitsalltag, beim Daddeln am Computer oder sogar beim Sortieren alter Klamotten. Wenn es dich packt, verschwinden Raum und Zeit.

      Du kannst den Flow-Zustand umso zuverlässiger herbeiführen, je besser du ihn verstehst. In diesem Buch hinterfrage ich den Begriff und gehe kurz auf die physiologischen Grundlagen und das gedankliche Modell ein, das Mihály Csíkszentmihályi aufgebaut hat. Die Erkenntnisse wende ich dann auf Fotografie und Kreativität an.

      Mihály Csíkszentmihályi schrieb mir persönlich, er freue sich sehr, dass ich Flow mit Fotografie analysiere und ein Buch darüber veröffentliche. Leider sei er im Ruhestand und krank. Ich freue mich jedenfalls über seine positive Rückmeldung.

      Der Begriff des Flows ist mitunter missverständlich, weil er in unterschiedlichen Zusammenhängen benutzt wird.

      Bei Fotografierenden drehen sich die Gespräche häufig um den Workflow. Damit ist eine Routine, eine zeitliche Abfolge praktischer Schritte gemeint. Zum Beispiel wie du deine Speicherkarte ausliest und deine Fotos in einem Bildbearbeitungsprogramm optimierst. Es ist äußerst praktisch, die Vorgehensweise anderer Fotografen zu kennen, um deinen eigenen Weg zu optimieren. Wenn du viel Zeit dafür aufwendest, wie du am besten deine vollgeknipste Chipkarte sicherst, kann es helfen, dir den Prozess von anderen erklären zu lassen: dass sie zum Beispiel erst mal alles auf ihre Festplatte laden, dann sofort zusätzlich auf eine externe Speicherplatte zur Sicherheit kopieren, dann die Fotos mit bestimmten Schritten in ein Bildbearbeitungsprogramm importieren, die alte Karte aber nicht löschen, sondern vorsichtshalber in einem getrennten Fach aufbewahren.

image

      1–6 Der Straßenkünstler macht Riesenseifenblasen und fasziniert damit die Passanten und Kinder. Er ist ein polnischer Rucksackreisender, der mit seinem Kumpel in Nizza Zwischenstation machte. Er verdiente sich ein paar Münzen für die Weiterreise dazu. Ich trug auch etwas bei und so entstand unter anderem dieses Foto, in dem ich ihn durch eine seiner Seifenblasen einrahmte. Er hat seinen Workflow, um sein Material aus seinem kleinen Reisegepäck hervorzuzaubern und aufzubauen und danach alles wieder darin eng verpackt und trocken zu verstauen, bevor es zur nächsten Reiseetappe weitergeht. Müsste er jedes Mal den Aufbau, Transport, das Anmischen der Seifenlauge, das Säubern und Zusammenpacken neu überlegen und optimieren, würde er wahrscheinlich bald seine Reise genervt aufgeben. Da er aber dazu eine Routine entwickelt hat, bleibt ihm alle Freiheit, sich mit den Touristen an den besonders großen Seifenblasen zu erfreuen und kreativ neue Seifenblasenspiele zu erfinden.

      All dies sind Einzelschritte, die zusammen den Workflow ergeben. Hast du deinen eigenen Ablauf gefunden, erleichtert das ungemein deine Arbeit als Fotograf. Du musst dann nicht jedes Mal das Rad neu erfinden, sondern kannst Altbewährtes routinemäßig einsetzen.

image

      1–7 Einer der Schlüssel zur Kreativität ist für mich, eine spielerische Leichtigkeit zu bewahren. Diese Frau sieht aufs unendliche Meer hinaus und wirft ihre Haare zurück. Frei und entspannt wirkt das so, wie du beim kreativen Schaffen bist.

      Daneben tritt häufig der Begriff des kreativen Flows auf. Er wird mit Spaß gleichgesetzt. Dabei geht es um das Fließenlassen der Kreativität, wenn es beim Herumspielen »einfach fluppt«. Dieser Begriff von Flow wird auch gerne von Coaching-Beratern und in Ratgebern rund um Persönlichkeitsentwicklung und Achtsamkeit verwendet. Dort hat er die Bedeutung, dass du mit deiner »Sache verschmilzt«. Es wird beschrieben, dass es sich gut anfühlt, wenn alles fließt und du diese tiefe Wahrnehmung von dir selbst oder deiner Beschäftigung hast. Der Begriff wird auf etwas bezogen, das in deinem Körper fließt, so wie Gedanken fließen. Er kommt dem wahren wissenschaftlichen Begriff nahe. Jedoch wird selten von den begeisterten Flow-Coaches tiefer in das eigentliche Flow-Thema und dessen Ursprung eingedrungen und so manches auch dazugedichtet. Daher betrachte ich diesen Begriff eher als ein Modewort, das nur teilweise mit dem tatsächlichen Flow


Скачать книгу