LaPax. Linda Kieser
heute nicht leise, sondern nur langsam und nur laut lesen. Oma hatte viel Geduld mit ihr gehabt, aber irgendwann war Mama das Üben am späten Abend leid gewesen. Sie hatte Omas altes Buch auf den Tisch geknallt und entnervt gefaucht: »Im System muss man das nicht können.« Auch nicht Papa, der damals noch da gewesen war, hatte etwas an ihrem Entschluss ändern können.
Selten hatte Seven seine Oma so traurig gesehen wie an jenem Abend. Seitdem las Mama nur kleine Notizen, die ihr jemand auf den Tisch legte, wie z.B. »Bin duschen. Ray« oder Ähnliches. Sie fand es jedoch nie sonderlich nützlich, denn ihrer Meinung nach konnte man ja einfach das Symbol für Dusche malen und seine Nummer dazu schreiben.
Bevor Seven ins Bett gegangen war, hatte er gesehen, wie Oma etwas aufschrieb und Mama hinschob. Wollte sie wieder anfangen zu üben? Heute benahmen sich wirklich alle sehr sonderbar.
»Das muss am Besuch des Assistenten liegen«, dachte Seven. Meistens gingen Großmutter und Mama doch sogar vor ihm schlafen. Wie würde Mama ihren Tag morgen schaffen, wenn sie so unausgeruht war? Sie hatte doch Frühschicht an der Zentrifuge.
»Ma, warte«, hielt Großmutter sie zurück. Ma wollte gerade ins Bett gehen als ihre Schwiegermutter sie bremste. »Wir müssen uns unterhalten – aber nicht so wie sonst.« Sie sah sehr ernst aus.
Eben hatte sie doch noch gut gelaunt mit Mini und Ray gespielt, bevor diese zu Bett gegangen waren. Sie und Ray hatten Mini dieses Brettspiel beigebracht, bei dem schwarze und weiße Figuren mit merkwürdigen Namen wie »Bauer« und »König« gegeneinander antreten und kämpfen mussten. Sie hatten Mini gelobt und viel gelacht, während Seven grimmig auf dem Sofa gesessen war und in regelmäßigen Abständen gemurmelt hatte: »Wie könnt ihr bloß so blöd sein und euch freiwillig operieren lassen?«
Nun, da nur noch Ma und Großmutter in der Küche saßen, hatte Großmutters Stirn aber wieder besonders tiefe Furchen und um ihre sonst so verschmitzt dreinblickenden Augen hatten sich Sorgenfalten gelegt. Sie fing an, einige Symbole auf das Papier zu schreiben, das sie auf den Tisch gelegt hatte.
»System.« »Hören.« »Wir.« »Leise.« Sie deutete auf Mas Ohren und legte dann den Finger an den Mund.
Ma überlegte, was das bedeuten sollte. Warum vergeudete Großmutter kostbares Papier, wenn sie doch einfach mit ihr sprechen konnte. Offenbar gab es etwas Geheimes zu besprechen. Aber das System hatte doch keine Kameras in ihrem Haus eingebaut, oder doch? War deshalb der Assistent heute da gewesen. Nein, so dreist würden sie doch nicht sein! Warum benutzte die alte Frau Symbole, anstatt mit ihr zu sprechen.
»Implantat«, fügte Großmutter als Symbol hinzu.
»Du meinst …«, setzte Ma an.
Großmutter legte einen Finger auf die Lippen, nickte warnend und reichte Ma ein Blatt mit den Schriftzeichen, die sie so ungern las.
»Du musst da jetzt unbedingt dranbleiben und üben«, sagte sie eindringlich. Zu gerne hätte sie ihr gesagt, dass sie Privatsphäre mit ihr brauchte, aber das wäre zu auffällig und ein Symbol dafür gab es selbstverständlich im System nicht.
Buchstabe für Buchstabe langsam laut lesend entzifferte Ma: »Gu-te Na-cht. I-ch ge-he je-tz-t i-ns Be-tt. Sch-la-f gu-t.« Fragend sah sie Clara an.
»Ja dann, ich gehe auch schlafen. Bis morgen.« Großmutter gähnte, stand auf und stieg langsam die Treppen hoch. Ma sah ihr irritiert hinterher.
»Warum trägt sie heute so eine komische bunte Schürze?«, fragte sie sich.
Doch dies war nicht die einzige Frage, die sie heute bewegte, als sie kurze Zeit später im Bett lag und das Implantat sich wieder einmal meldete: »Bei Schlafstörungen helfen Schlaftabletten. Sie erhalten morgen eine Packung an Ihrem Arbeitsplatz.«
Abgesehen davon, dass am nächsten Abend kein Assistent zu Besuch kam, lief der Abend wieder ähnlich ab wie der vorherige. Ray und Mini hatten sich regelrecht verbündet und Seven beschäftigte sich mit verschiedenen Dingen im Haus. Er hatte schon immer versucht, das Haus wenigstens von innen gut instand zu halten. Hin und wieder nahm er etwas Farbe aus dem geheimen Kellerraum und besserte die eine oder andere Stelle an der Wand aus. Die Wände waren ein heller Flickenteppich aus weiß, hellgrau, gelb und grün, doch mittlerweile waren die hellen Farben ausgegangen und immer mehr Risse wurden mit dunkelblau übermalt. Ma mochte das nicht.
»Das Haus wird zu dunkel«, hatte sie schon öfter gesagt.
»Besser dunkel als überall die abbröckelnde Farbe«, war Sevens Meinung gewesen.
Heute schimpfte niemand mit ihm, als er den blauen Farbtopf in sein Zimmer trug, um dort zu malern. Er musste nur aufpassen, dass er seine Kleidung nicht beschmutzte. Die dunkelblaue Farbe könnte er in der Wäscherei schlecht erklären.
Seven ärgerte sich über seine Familie, die ihre Zeit scheinbar sinnlos vertat.
»Pah, als ob sie nichts Besseres zu tun haben!«, dachte Seven. »Wenigstens einer kümmert sich hier darum, dass wir nicht enteignet werden, weil unser Haus so einsturzgefährdet aussieht«, ging es ihm durch den Kopf, während er den Pinsel schwang. Der war mittlerweile schon ziemlich hart und nahm die Farbe nur schlecht auf. Das lag wohl daran, dass Seven den Pinsel nur unauffällig nachts in dem schmutzigen Tümpel am Rande des Dorfes auswaschen konnte. Aber alles war besser als Nichtstun.
Ray staunte nicht schlecht, als Mini ihr die Dame mit seinem Reiter abknöpfte. Sie konnte sich aber nicht gut auf das Spiel konzentrieren, da sie so verwirrt war. Gestern nach der Nacharbeit hatte es gar keinen Ärger gegeben. Dafür waren alle schlecht gelaunt, weil ein Assistent das Haus überprüft hatte. Ray machte sich Sorgen, dass sie womöglich enteignet werden würden und dann als Familie getrennt würden. Deshalb war sie auch bei der Arbeit unkonzentriert gewesen und der Kartoffel werfende Milchbubi hatte sie schon wieder irgendwie ausgetrickst. Er musste sie wirklich für ganz schön dumm halten. Heute hatte sie besser aufgepasst, obwohl ihre Gedanken immer wieder zu ihrer Familie gewandert waren.
»Ray, du bist dran«, unterbrach Mini ihre Tagträume.
»Ähm, ja dann …«, überlegte Ray, doch sie konnte sich einfach nicht auf das Spielbrett konzentrieren. »Ach, weißt du was, Mini, ich hab keine Lust mehr.«
»Du bist so gemein!«, schimpfte Mini. »Bloß weil ich gewinne, willst du nicht weiterspielen!« Und mit diesen Worten rannte er nach oben zu seiner Mutter, die mit Oma am Bildschirm saß. Ray hörte bis nach unten, wie Mini sich beklagte.
»Mama, Ray ist so gemein. Bloß weil ich gewinne, will sie nicht mehr weiterspielen.«
»Ach wirklich, Mini. Warte, ich komme ja schon.« Und sie rief vom Treppengeländer herunter. »Ray, Liebes, spiel doch bitte noch ein bisschen mit Mini. Ich muss noch etwas mit Oma machen.«
Ray stöhnte genervt auf: »Muss das sein? Was macht ihr da eigentlich, Mama? Wir haben doch heute schon geguckt.«
»Ach weißt du, da ist etwas Interessantes über die neuesten medizinischen Techniken bei der embryonalen Erkennung von Krankheiten.«
Ray hörte zwar, was ihre Mutter da sagte, doch sie glaubte kein Wort davon. Es war ohnehin ungewöhnlich, dass sie sich mit Oma in ihrem Zimmer verschanzte. Und dass etwas Spannendes am System-Bildschirm lief, das kein neues Spiel war, war ausgesprochen unwahrscheinlich. Irgendetwas war im Busch.
»Ja, ist ja gut. Ich spiel schon weiter«, antwortete sie. Sie hatte längst gelernt, dass man manchmal mehr erfuhr, wenn man nicht neugierig nachfragte. Mini trottete langsam wieder nach unten.
»Aber du lässt mich nicht mit Absicht gewinnen. Das ist sonst doof«, murrte er.
»Nein, mach ich nicht. Ich streng mich ganz arg an. Schau, ich schnapp mir deinen Läufer.«
»Oh!«, machte Mini, und während er über seinen nächsten Zug nachdachte, überlegte Ray, was Oma und Mama dort oben wohl taten.
Mini hätte vermutlich ohnehin gewonnen, aber Ray schaffte es, dass sie unauffällig etwas schneller verlor als nötig. Mini freute sich riesig über seinen Sieg und Ray hatte eine Idee.
»Mini,